Zwischenruf Juni 2024

Mönchengladbach: Wer träumt, soll weiterschlafen!


In der Nacht vom 26. zum 27. Mai 2024 beschädigen Unbekannte den Eingangsbereich einer Wohnstätte der Lebenshilfe in Mönchengladbach. Ein Ziegelstein mit der Aufschrift „Euthanasie ist die Lösung“ findet sich am Tatort. Offensichtlich hatte man ihn gegen die Eingangstür geworfen. Einige Tage zuvor gab es auf die Geschäftsstelle ebenfalls eine Attacke durch einen Steinwurf. So weit so schlimm.

Wofür aber soll eigentlich Euthanasie „die Lösung“ sein? Was ist „gelöst“, wenn es keine Menschen mit einer Behinderung mehr gibt? Geht es um Kosten? Geht es um Vielfalt und Andersartigkeit oder geht es um das, was seinerzeit bei dem legendären Frankfurter Urteil, in dem Verständnis dafür aufgebracht wurde, dass es einen Mangel darstellt, wenn man (in seinem Urlaub) behinderte Menschen sehen muss, für Empörung sorgte?

Wenn es um Kosten geht, dann fällt den Macherinnen und Machern des BTHG auf die feinen Lackschuhe, dass sie seinerzeit auch argumentierten, dass man mit dem BTHG Kosten sparen müsse, weil man (u.a.) von der Euthanasie nichts mehr merke. Ja, behinderte Menschen zu ermorden spart Geld. Und über Jahre „profitierte“ man noch von den Einsparungen bis irgendwann wieder so viele Menschen mit Behinderungen unter uns waren, dass sich das BMAS zum Einschreiten veranlasst sah und uns das schnuckelige BTHG überhalf. Dass seinerzeit zu diesem kruden Argument ein kollektives Schweigen vernehmbar war und alle ihren staunenden Mund hielten, macht es nicht gerade besser.

Wenn es um Vielfalt und Andersartigkeit geht, die als störend empfunden werden, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis neben der Gruppe der Menschen mit Behinderungen weitere Personengruppen definiert und deren Ermordung ebenfalls als „Lösung“ angesehen werden. In einem solchen System wollen sicher noch nicht einmal diejenigen leben, die den Stein geworfen haben. Aber das kommt davon, wenn man aus der Geschichte nicht lernen will.

Und welcher politischen Gruppierung wir die Renaissance dieser menschenverachtenden Gedanken zu verdanken haben, ist hoffentlich auch denen klar, die sie gewählt haben und ihr speichelleckend hinterherrennen. Der Schoß ist fruchtbar noch. Und die Ergebnisse der nächsten Landtagswahlen wird man sicher nicht nur in Mönchengladbach genauer beobachten.

Wenn es darum geht, dass unsere obercoole Gesellschaft, die sich unter Nicknames selber Social-medial performt und die auf dem Work-Life-Balance-Trip irgendwo zwischen Leidensfreiheit und Weltfremdheit unterwegs ist, und nun, nach Corona, Klima und Krieg, nicht auch noch von Behinderten gestresst werden will, dann zeigt der neoliberale Zeitgeist uns seine eiskalt grinsende Fratze. Dass sich in Deutschland jeder zweite Jugendliche einsam fühlt, macht es nicht besser. Im Gegenteil, das könnte schon ein Teil der Erklärung für die Vorfälle in Mönchengladbach sein. 

Wie dem auch sei, wir haben festzustellen, dass die Feindlichkeit gegenüber Andersartigkeit zugenommen hat und dass es um mehr geht als um einen beschmierten Ziegelstein und eine beschädigte Eingangstür. Der Ziegelstein und seine menschenverachtende Botschaft gilt uns allen gleichermaßen, die wir wissen, dass Hilfe und Helfen kosten, dass Vielfalt ein Merkmal des menschlichen Lebens ist, dass es keinen Glücksanspruch auf ein sorgenfreies Leben gibt und dass das Leben nicht autark zu realisieren ist.



Was ist bei einer solchen Befundlage zu tun?

Nun, hinsichtlich der Kosten lässt sich sicher die ein oder Mark sparen, wenn wir über die Fachkraftfrage mutiger diskutierten. Bis heute habe ich niemanden finden können, der mir sagt, wieviel Fachkraftanteil eigentlich bei einem Menschen vorliegt, der eine Epilepsie hat, geistig leicht beeinträchtigt ist und in einem Wohnheim lebt. Wie wissenschaftlich belegt sind eigentlich die gängigen Fachkraftquoten?

Ja, und weil Heime fachlich keinen Sinn machen, kann man den ohnehin kostengünstigeren Weg der ambulanten Versorgung wählen. Das entspricht dem Geist von UN-BRK und dem des BTHG ohnehin. Aber auch da schweigen die Großen und fallen, wenn überhaupt, eher durch Sprechblasen und blasse Lippenbekenntnisse hinsichtlich so etwas für sie Lästigem wie „Inklusion“ auf.

Allerdings sollte sich hier auch die Politik bewegen und andere (Soziale!) Nutzungszwecke der Gebäude anerkennen, ohne Fördermittel zurückzufordern. Da geht durchaus mehr!

Ja, und auch ein allgemeines verpflichtendes Soziales Jahr wäre etwas, was Kosten senken und den (blau-braunen) Horizont erweitern würde. Aber da schweigen die Großen und werden so klein, dass man weder etwas von ihnen sieht noch hört. Naja, vielleicht schaffen ja die Herren Steinmeier und Pistorius Fakten.

Denn es geht nicht nur um Kosteneinsparungen. Es geht auch um die Erfahrung von Sinn, um die Erfahrung, wichtig und gebraucht zu sein, es geht um Perspektive und die Erkenntnis, dass es im Leben nicht darauf ankommt, möglichst viele Likes und Follower zu generieren.

Soziale Kompetenzen gehören in die Fläche, das ist kein Herrschaftswissen, sondern Allgemeingut. Man stelle sich vor, dass wir irgendwann „Sozial“ nicht mehr können, weil es voll durchprofessionalisiert ist. Auch da schweigen die Großen und machen sich lieber auf den Weg zur Grundsteinlegung ihrer neuen Wohnstätte.

Ein Sozialwort der Kirchen ist längst überfällig. Aber wie sollen sich die Kirchen äußern, wenn beispielsweise die katholische Kirche weniger Mitglieder als der ADAC hat? Ja und wenn es Caritas und Diakonie, die von den Kirchen ausgelagerte und kommerzialisierte Nächstenliebe, nicht gäbe, wäre der Bedeutungsverlust der Kirchen wohl noch gravierender. So kann es einem gehen, wenn man seinen Markenkern outsourct.

Ist die Ökonomisierung des Sozialen tatsächlich der Königsweg? Wir Menschen sind Soziale Wesen und eine Ökonomisierung des Sozialen ist die Ökonomisierung des Menschen. Der Mensch aber ist kein Ding, seine Bedürftigkeit ist kein Spekulationsobjekt und sein Hilfebedarf kein Geschäftsfeld.

Hier fehlt der öffentliche Diskurs und es schweigt die Sozialwissenschaft, die denn mal genauer untersuchen könnte, ob die Heilsversprechen der Ökonomisierung des Sozialsektors denn überhaupt aufgegangen sind und ob der Platz, an dem wir heute stehen, der Platz ist, an dem man sich damals hin wünschte, als man sich der Ökonomisierung verschrieb.

Zum Befund gehört ferner, dass dem ökonomisierten Hilfesystem allmählich die Puste ausgeht, dass Mitarbeitende fehlen und dass Geld fehlt, Hilfe einkaufen zu können.

Der japanische Wissenschaftler Yusuke Narita schlägt einen kollektiven Massenselbstmord von Senioren und Seniorinnen vor. Eifrig wird im Bereich im Bereich der Pflege auf Digitalisierung, Automatisierung und KI gesetzt und alle bemühen sich, fehlendes Personal aus anderen Ländern anzuwerben, als wüchse es dort auf den Bäumen und würde in ihrer Heimat nicht benötigt. „Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen“, lautet das hierzu passende Zitat von Mark Twain.

Der Sozialsektor ist zum kranken Mann geworden und aus einem toxischen Mix aus Unsicherheit und fehlenden Visionen schweigen die Verantwortlichen und sind bemüht, ihre bisherige Denk- und Handlungsrichtung beibehalten. Ein Jahresfest mit Bratwurst und Tombola ist eben angenehmer als eine Zukunftswerkstatt.

Wenn wir unsere Hausaufgaben nicht endlich machen, und anfangen, breit über die Zukunft des Sozialen zu diskutieren, dann ist vorhersehbar, dass Mönchengladbach überall sein wird.

Und abschließend wäre noch die Frage zu diskutieren, ob es zu solchen Vorfällen wie in Mönchengladbach auch gekommen wäre, wenn, wie von der UN-BRK gefordert, bereits alle Sonderwelten abgeschafft und Menschen mit Behinderungen so in der Gesellschaft leben und verankert wären wie Du und ich. Denn unsere Geschichte lehrt, dass Menschen mit Behinderungen (während der Zeit der Euthanasieverbrechen…) zu Hause geschützter waren als in ihren Sonderwelten. Das schmeckt nicht jedem, ist aber historisch belegt.

Es sind übrigens nicht immer nur die Anderen, die nicht aus der Geschichte lernen wollen...



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