Kolumnen
Mehr Licht!
Es ist Freitagnachmittag. In einer sächsischen Kleinstadt hat der dortige Assistenzverein zu einer Veranstaltung zum Bundesteilhabegesetz geladen. Es sind rund 60 Leute gekommen, von denen tatsächlich einige auch geladen sind.
Aus Berlin ist der Hauptredner angereist, der schon dadurch auffällt, dass sein Outfit und seine zwei Smartphones nicht ganz dem Durchschnitt entsprechen. Ansonsten viele Menschen, die unmittelbar betroffen sind und einige Unbetroffene, die aber auch betroffen sind.
Zuerst die Begrüßung: Freue mich. Große Resonanz. Viele Gäste. Hochrangiger Experte. Landrat auch da. Sogar eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Viele Fragen. Viele Proteste. Nicht mein Gesetz. Nachbesserungen angekündigt. Änderungsanträge. UN-BRK. Kaffeepause. Folien werden eingestellt. Gemütlicher Ausklang und Redner stehen noch für Fragen zur
Verfügung.
Dann, als unvorhergesehene Gästin, eine Bundestagsabgeordnete, die noch kurz zum Mikro eilt: Danke, dass ich hier sein darf. Nächster Termin wartet. Wollte es mir aber nicht nehmen lassen, kurz vorbeizukommen. Wichtiges Gesetz. Politik kann nicht alle Erwartungen erfüllen. Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe. Wichtiger Schritt. Bedeutende Reform. Wir Politiker durchblicken auch nicht alles. Gesetz muss in Kraft treten. Es kann später noch nachjustiert werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dann der Herr aus dem Ministerium. Wäre eigentlich erst viel später dran, muss aber auch eher weg: Tut ihm leid. Können mich alle verstehen? Ich versuche, mich kurz zu fassen. Koalitionsvertrag. Modernisierung der Eingliederungshilfe. Keine weitere Steigerung der Ausgabendynamik. UN-BRK. (Da sagt er dann sinngemäß, dass das BTHG „Im Lichte der UN-BRK“ geschrieben sei und ich merke, wie sich zum ersten Mal mein Magen meldet …).
Plötzlich hinter mir ein Geräusch. Offensichtlich ist einem Teilnehmer ein Glas umgefallen. Er: soll ich warten? Ist alles in Ordnung? Die Botschaft: So einem, der so feinfühlig ist, und sogar für ein umgefallenes Glas seinen powergepointeten Vortrag unterbricht, dem kannst Du ruhig das BTHG anvertrauen!
„Gemeinschaftliche Inanspruchnahme“ klingt schöner als „zwangspoolen“, fährt er dann fort. Anhebung der Freibetragsgrenze. KdU. Bestandsschutz. Mehrere Stufen. Evaluation und Nachbesserung. Personenzentrierung. ICF. Bessere Steuerungsmöglichkeiten.
Wieder Geräusche und wieder Unterbrechung. Wieder die Frage, ob alles in Ordnung sei. Ja, das Bild verfestigt sich: Dem kannst Du ruhig ein solches Gesetz anvertrauen…
Dann sind die Folien fertig, der Mann aber noch nicht. Jetzt geht es um den Vorrang der Pflege. Dazu ist nichts in den Folien zu finden gewesen. Offensichtlich hatte er gar nicht vor, darüber zu sprechen. Ist ja auch nicht so wichtig, da ja nun die Pflege auch „verstärkt Teilhabeelemente“
enthalten wird… PSG II und PSG III. Zugangskriterien.
Im weiteren Verlauf betont er noch, dass es dem Gesetzentwurf nicht gut täte, wenn er im Vermittlungsausschuss behandelt werden würde. 2017 ist Wahljahr. Dann würde erfahrungsgemäß alles verwässert oder käme unter Umständen sogar vollends ins Stocken. Die klare Botschaft: Schnell durchziehen und dann nächstes Jahr in Ruhe zur Wahlurne.
Da meldet sich mein Magen zum zweiten Mal und es ist unangenehm, zu sehen, mit welch fadenscheinigen Gründen plötzlich „Schnelligkeit vor Gründlichkeit“ propagiert wird. Es ist offensichtlich, dass man den Widerstand, auch den der vermeintlich handzahmen Verbände, unterschätzt hat.
Und plötzlich dämmert es: Wer für diese relativ kleine Schar in die sächsische Provinz reist, macht es nicht der Menschen wegen, sondern um etwas zu befrieden. Politik und Verwaltung mögen es nicht, wenn das Volk sich zu sehr einmischt ...
Später, auf dem Nachhauseweg, kommt die Antwort auf die Frage, wessen Gesetz das BTHG eigentlich ist, wenn es nicht das der Betroffenen und auch nicht das der (meisten …) Verbände ist. Es ist das Gesetz der Politik, die „im Lichte“ der UN-BRK sparen will. Sie verpackt das auf knapp 400 Seiten und ist pikiert, wenn man ihr nicht applaudiert.
Man muss nicht sehen können, um zu durchschauen, was da gerade geschieht.
Die Politik will sparen und hat sich dazu vor allem drei Dinge ausgedacht:
- sie erschwert den Leistungszugang (= fünf aus neun Kriterien bei der Bedarfsfeststellung)
- sie sucht sich einen, der mitfinanziert (= Vorrang der Pflege)
- und sie stärkt die Steuerung (= Wirksamkeitsprüfung, Vertragsabschluss nur noch mit Anbietern, deren Angebot im unteren Drittel angesiedelt ist, …)
Ach ja, das hatte ich fast vergessen. Der freundliche Herr aus der Bundeshauptstadt hatte zu Beginn seiner Ausführungen darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit zum Sparen sich aus zwei Dingen ergeben würde: der allgemeinen demografischen Entwicklung und den Geschehnissen in der Nazizeit, die glücklicherweise überwunden seien.
Allein darüber sollte man mal ungestört nachdenken. Denn im Klartext heißt das, dass es nicht teurer wird, weil es qualitativ immer besser geworden wäre, sondern weil immer mehr Menschen leistungsberechtigt sind. Merke: Nicht die Qualität ist preistreibend, sondern die Quantität.
Und das ist der eigentliche Skandal!
Denn kaum ist die durch die tausendfache Ermordung von Menschen mit Behinderungen entstandene „unnatürliche Populationskurve“ offensichtlich wieder auf dem "Voreuthanasiestand" angelangt, da sind es schon wieder zu Viele!!
Das heißt doch, lieber Herr aus Berlin, dass es den Menschen mit Behinderungen in den ersten 60 bis 70 Jahren nach der Euthanasie in Deutschland nur deshalb so gut ging, weil sie noch nicht (wieder) so zahlreich waren! Und das heißt auch, dass Deutschland von dieser Ermordung über Jahrzehnte hinweg so lange „profitiert“ hat, bis die Zahl nicht mehr signifikant abweichend war!
Jetzt also, wo man von der Euthanasie nichts mehr „merkt“, wird es Zeit, etwas gegen die mit der „steigenden Zahl von Leistungsberechtigten“ einhergehende „Steigerung der Ausgabendynamik“ zu unternehmen. So, so.
Welches Menschenbild steckt eigentlich hinter einer solchen Denke?
Klar ist: Ein Deutschland, das mit dem Beitritt zur UN-BRK den Betroffenen zusichert, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“, kann mit einer solchen Denke dieses Versprechen nicht einlösen. Und natürlich auch nicht mit einem solchen Gesetz.
Dem netten Herrn aus der Bundeshauptstadt, der sagt, dass das BTHG „im Lichte“ der UN-BRK stehe, kann man nur das zurufen, was dem alten Goethe auf dem Sterbebett schon fehlte:
„Mehr Licht!“
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