Zwischenruf Juli 2023


Zweiter Jahrestag der Flut im Ahrtal:

Das Heim als Todesfalle


Im Sommer 2021 gibt es im Südwesten Deutschlands langanhaltende starke Regenfälle. Bäche und Flüsse steigen rasant an und es kommt zu verheerenden Überschwemmungen. Allein im Ahrtal sterben 134 Menschen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, also heute vor genau zwei Jahren, ertrinken 12 Menschen, die in einem Wohnheim für Behinderte in Sinzig leben.

Kaum ist das Schlimmste überstanden, beginnt die juristische Aufarbeitung und damit beginnen auch Diskussionen und Untersuchungen, ob denn auf allen Ebenen durch die Verantwortlichen immer und rechtzeitig die richtigen Entscheidungen getroffen wurden.

Weil es um viel geht, zieht sich das und in gewohnter Manier wird gekonnt der Ball hin- und hergeschoben.

Selbst zwei Jahre danach gibt es immer noch mehr Fragen als Antworten. Und es ist folgerichtig, dass auch die Frage, ob denn der Tod der zwölf Menschen in dem Sinziger Wohnheim hätte verhindert werden können, ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung diskutiert wird. Das ist richtig, wichtig und gut so.

Dennoch kann man die Frage auch anders diskutieren. Man kann sich beispielsweise die Frage stellen, warum es überhaupt ein Wohnheim für Menschen mit Behinderungen geben muss(te)?!

Denn es ist eine bekannte und auch belegbare Tatsache, dass fachlich nichts dafür spricht, dass Teilhabe und Inklusion erfolgreicher gelingen und es Menschen mit Behinderung besser geht, es quasi ihrer Behinderung zuträglich ist, wenn sie mit anderen behinderten Menschen in einem Haus wohnen. Im Gegenteil: Eine Konzentration von Menschen mit bestimmten Merkmalen auf engem Raum produziert stattdessen zusätzliche Probleme, die ihren Ursprung nicht in der individuellen Beeinträchtigung der einzelnen Bewohner*innen haben, sondern aus der Wohnsituation resultieren.

Das geht bei dem Gebäude los und hört bei dem Dienstplan auf. Ein Wohnheim ist ein Sonderbau. Es handelt sich eben nicht um eine WG in einem Privathaus. Feuerwehr und Brandschutz machen Vorgaben, die Heimaufsicht spricht ein Wörtchen mit und, natürlich, steht die Funktionalität des Gebäudes, das in der Regel mit öffentlichen Mitteln errichtet ist, klar im Vordergrund.

Und, ja, selbstverständlich kann man sich seinen privaten Raum auch in einer Wohnstätte durchaus hübsch gestalten. Das ist nicht der Punkt. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Feststellung, dass solche Gebäude keinen Sinn machen!

Es mag durchaus logistisch einfacher und ökonomisch günstiger sein, Menschen mit Behinderungen in einem eigens für sie errichteten Gebäude unterzubringen/ wohnen zu lassen, aber heilpädagogisch ist dies nicht erforderlich. Ein Wohnheim begründet sich nicht aus therapeutischen Notwendigkeiten und gesellschaftliche Teilhabe gelingt nicht besser, wenn man dafür von zu Hause aus- und in ein Wohnheim einzieht.

Das sind auch in Marburg, wo die Lebenshilfe im November ihren 65. Geburtstag feiert, keine neuen Erkenntnisse. Und schon vor der UN-Behindertenrechtskonvention war klar, dass Sonderwelten nichts mit „normalem“ Leben und mit „normaler“ gesellschaftlicher Teilhabe zu tun haben. Das hat man auch schon 1958 gewusst. Und wir bekommen, wieder einmal, vor Augen geführt, dass sich nicht nur Individuen gelegentlich von ihren Idealen verabschieden, sondern dass auch Institutionen, Vereine, Verbände und Parteien davor nicht gefeit sind.

Da ist man seinerzeit angetreten, es allen zu zeigen und wollte es besser als Caritas und Diakonie machen und spielt heute mit den schlechten Vorbildern von einst in einer Liga. Kinder, wie die Zeit vergeht.

Unterwegs einfach mal schnell irgendwo abbiegen. Geradeaus kann anstrengend sein. Und wenn man auch ohne Ideale gut über die Runden kommen kann, na dann aber!

Buchhalter*innen wissen längst: Vor der Idee kommt das Budget. Realitätsgewinn geht halt meistens mit Visionsverlust einher. Und wer sich früher an Idealen berauschte, greift heute, in Ermangelung derselben, gern zur betriebswirtschaftlichen Auswertung.

Der 15. Juli 2021 hat gezeigt, dass es zwei wesentliche Gründe gibt, die gegen Wohnheime sprechen: Sie sind fachlich nicht erforderlich, um das mal etwas abgeschwächt zu formulieren, und sie stellen zudem in Katastrophen- und Extremsituationen ein überdurchschnittliches Gefährdungsrisiko der Bewohner*innen dar.

Extremereignisse, ob Hochwasser, Feuer oder andere Katastrophen, sind in ihren Auswirkungen immer dann besonders dramatisch, wenn sie dort auftreten, wo sich viele hilfe- und schutzbedürftige Menschen auf engem Raum aufhalten. Das ist zum Beispiel in Wohnstätten und Pflegeeinrichtungen der Fall.

Die Auflagen und Einschränkungen, die während der Corona-Pandemie für Wohn- und Pflegeheime galten, sind noch in lebhafter Erinnerung. Aber auch das Auftreten von Noroviren, Legionellen und ansteckender Krankheiten wirkt sich immer gleich auf alle Bewohner*innen aus und beeinträchtigt die Funktion der gesamten Struktur.

Während die Gefährdungssituationen der in einem Wohnheim Beschäftigten bereits einigermaßen gut beschrieben und erforscht sind, fehlt sie für die Betreuten nahezu komplett. So erhöht sich das individuelle Gefährdungsrisiko schon allein durch den Umstand, dass man sich zeitgleich mit vielen weiteren (schutz- und hilfebedürftigen) Menschen am selben Ort aufhält. Das ließe sich sogar, wenn man es wollen wollte, mathematisch berechnen.

Das Unglück in der Sinziger Wohnstätte wirft nicht nur die Frage nach Verantwortung in der Nacht der Katastrophe auf, sondern es stellt vielmehr die Frage, wieso überhaupt ein Haus zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen errichtet und betrieben wurde und ob den Verantwortlichen klar war, dass das Gebäude aus fachlichen Gründen nicht erforderlich war.

Diejenigen, die es betrieben haben, dürften vermutlich wissen, dass gelingende (gesellschaftliche) Teilhabe nicht von Leben in einem Wohnheim abhängig ist, sondern von der Form der Unterstützung. Und es dürfte wohl auch bekannt sein, dass eine Konzentration von Menschen mit Behinderungen in einem eigens für sie errichteten Gebäude wohl das persönliche Gefährdungsrisiko, nicht aber (automatisch auch…) die individuellen Teilhabemöglichkeiten steigert.

Wenn die Aufarbeitung des Dramas, das zum Tod der zwölf Heimbewohner*innen führte, gründlich und lückenlos sein soll, muss sie auch die Frage nach dem grundsätzlichen Sinn von Wohnheimen für Menschen mit Behinderungen beinhalten.

Schnell dürfte dann deutlich werden, dass die wirksamste Maßnahme, die geeignet ist, künftig diese und ähnliche Katastrophen zu verhindern, im Verzicht auf den Bau und das Betrieben von Wohnheimen besteht. Fachlich werden sie nicht benötigt und menschenrechtlich sind sie nicht erwünscht. Auch mit den klassischen Leitbildern von Inklusion und selbstbestimmter Teilhabe sind sie nicht kompatibel.

Die Zeiten, in denen in Deutschland Fachleute hitzig über Pro und Contra stationärer Wohnangebote diskutiert haben, sind längst vorbei. Die Vorträge sind gehalten und die Evaluationen liegen vor.  Statistiken, Berechnungen und Prognosen sind veröffentlicht, Gesetze sind verabschiedet und richtungsweisende Urteile gesprochen. Fachlich ist alles gesagt und das Fazit lautet: Teilhabeleistungen stationär anzubieten, ist ein Auslaufmodell.

Wenn die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung der Katastrophe, egal an welchem Ort in unserer Republik, grundsätzlich ausgeschlossen werden soll, geht dies nur, wenn keine (weiteren) Wohnheime, auch keine sogenannten Ersatzneubaten, mehr errichtet und bestehende stillgelegt werden. Die Denkrichtung ist vorgegeben.

Nun bleibt zu hoffen, dass die Betroffenheit über das Ausmaß der Katastrophe in den Wunsch übergeht, alles zu unternehmen, das eine Wiederholung unmöglich macht. Dazu muss man nur das Undenkbare denken: Einen Ort, eine Stadt, einen Kreis ohne Häuser speziell und ausschließlich nur für Menschen mit Behinderungen!

Bei möglichen Unsicherheiten kann es hilfreich sein, danach zu fragen, wie die Teilhabeangebote organisiert sein müssten, dass man sie im Bedarfsfall auch selber gern in Anspruch nähme.

Es wäre ein wirklich schönes Ereignis, wenn aus Sinzig ein Signal käme, das klar über das hinausgeht, was man üblicherweise in solchen Situationen zu sagen pflegt!

Darin könnte im Übrigen tatsächlich ein Teil der Verantwortung bestehen.



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