Vorträge und Referate

Redebeitrag im Rahmen des Fachtages "Wege zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen" am 11.02.2013 in Dresden


Gern komme ich der Bitte des Veranstalters nach, mit einem Eingangsstatement die Diskussion
zum Themenbereich „Wohnen und Behinderung“ ein wenig zu bereichern. Gestatten Sie mir
also, dass ich als jemand, der mehr als drei Jahrzehnte im Bereich der Behindertenhilfe tätig ist, die ein oder andere Anmerkung mache.

Als ich jedoch überlegte, wie ich denn in das Thema einsteige sollte, ob mit oder ohne Powerpoint, ob mit oder ohne knackige Kernsätze, ob mit oder ohne statistischem Material. Und, falls Statistik, welchen Fokus? Bund oder Land? BAGÜS oder Behindertenbericht? Deutscher Verein oder BAGFW?

Je länger ich nachdachte, desto stärker meldete sich ein merkwürdiges Bauchgefühl und ich spürte ein Unbehagen aufsteigen, das mich dann zu dem Wortbegriff „zornige alte Männer“ „googeln“ ließ. Bei 180.000 Treffern in einer ¾ Sekunde scheint da was dran zu sein: Es gibt sie, die zornigen Alten, die, frei nach dem Motto „Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen“, bestimmte Dinge nicht mehr hören mögen und die es drängt, Dinge einen Tick direkter beim Namen zu nennen.

Auch ich bin mittlerweile einer von denen, die es nicht mehr hören können. Die Überdosis besuchter Veranstaltungen zum Themenkomplex „Wohnen und Behinderung“ hat Spuren hinterlassen. Und die sich auftürmenden Tagungsdokumentationen, Fachvorträge und Studien zeigen überdeutlich: Zu diesem Thema ist bereits alles gesagt. Und mittlerweile sogar auch von
allen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es keine weiteren Tagungen mehr zu Wohnwünschen und zu Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe braucht, denn Wissen ist genug vorhanden. Meine Feststellung lautet vielmehr: Im Bereich der Behindertenhilfe besteht schon seit Jahren kein Wissens-, sondern ein Handlungsdefizit!

Da geht der Fingerzeig sehr direkt und schnörkellos in Richtung Politik. Die Politik will Trägervielfalt. Und wir haben es hingenommen, dass der Kontext, in dem Hilfen für Menschen mit Behinderungen erbracht werden, als „Sozialmarkt“ bezeichnet wird. Das ist jedoch höchst irreführend. Denn nicht der „Behinderte“ ist Kunde, sondern die Politik. Sie bestellt und bezahlt.

Der Trägervielfalt steht ein Einkaufsmonopolist gegenüber, der den Preis diktiert und die Angebote definiert, die er gern hätte.

Die Verwaltung hat das Helfen outgesourct. Sie bestellt an der Theke ein Bier und drückt sich noch um ums Bezahlen. Mit großer Selbstverständlichkeit fordert sie 10% Nachlass auf ihre Bestellung und nennt das „Eigenanteil des Trägers“.

Klar ist doch: Wer „Inklusion“ bestellt, muss sie auch bezahlen und dabei selbstverständlich
Bedingungen schaffen, dass überhaupt geliefert werden kann. Es ist dem Lieferanten nicht zuzumuten, sich durch enge Hausflure den Weg zu bahnen, in denen es nicht Fahrräder und Kinderwagen sind, die den Weg versperren, sondern hier blockieren nicht kommunizierende Sozialgesetzbücher, Verordnungen, Erlasse und Ausführungsbestimmungen den Weg zum Empfänger.

Um die Bestellung „Inklusion“ auch ausliefern zu können, sind vom Besteller selbstverständlich auch barrierefreie Lieferbedingungen zu schaffen.

Überall dort, wo Menschen wohnen, sind immer auch Einige anzutreffen, die auf Unterstützung
angewiesen sind. Mit viel Aufwand ist diesen Menschen Hilfe in Strukturen bereitgestellt worden, deren Inanspruchnahme in der Regel von ihnen einen Umzug, und damit die Aufgabe des vertrauten sozialen Umfeldes, erwartet.

Die Hilfe ist an das Wohnen gebunden worden, sodass man nur dann von ihr profitieren kann, wenn man zu ihr zieht und dort seinen ersten Wohnsitz nimmt, wo auch die Hilfe ist.

Fachlich sinnvoll aber ist es, dass die Hilfe den Menschen dort aufsucht, wo er wohnt. Folglich dürfen Betreuungsschlüssel nicht an Wohnorte gekoppelt werden,sondern an die anspruchsberechtigte Person.

Bei einem angenommenen Betreuungsschlüssel von 1:3 beispielsweise, bedeutet das, dass die Person das Recht auf 1/3 Hilfe von 40 Wochenstunden hat und nicht, um im Bild zu bleiben- das Gebäude, in dem sie lebt!

Es sind weder Betroffene noch die Dienstleister, die sich ausgedacht haben, die sog. „Metzler-Schlüssel“ ans Wohnen zu koppeln, sondern die Verwaltung. Sie unterstellt, dass eine Person
mit einem Anteil von 1/12 von 40 Wochenstunden „draußen“ leben kann und eine Person mit ½
von 40 Wochenstunden nicht.

Und es ist auch Verwaltung, die eine rechtliche Wirklichkeit schafft, die den Gebäuden zuarbeitet und unter der Bezeichnung „SächsBeWoG“, Hilfebedürftigen und ambulanten Querdenkern gleichermaßen, gehörig auf die Finger klopft.

Wenn sich dann Teile ordnungsrechtlicher und Teile leistungsrechtlicher Verwaltung zusammentun, wie jüngst mit dem Umzug der Heimaufsicht in die Struktur des KSV geschehen, geht davon nicht gerade ein Aufbruchssignal durch den Freistaat.

In der Wirtschaft, so zumindest die Werbung, wird „die Zukunft aus Ideen gemacht“. Der Unterschied zur Wirtschaft, so könnte man meinen, besteht darin, dass in der Sozialen Arbeit die „Zukunft aus Verwaltungshandeln“ gemacht wird.

Auch deshalb kann von Marktwirtschaft keine Rede sein. Wenn sich Wohnbedingunge nachhaltig verbessern und die Hilfe noch mobiler werden soll, dann ist es an der Zeit, Denken aufzugeben, das unterstellt, dass jedem, der mit einer quergedachten Idee an eine Bürotür klopft, prinzipiell zu misstrauen ist.

Und wie, bitteschön, muss man sich eigentlich im Bereich der Eingliederungshilfe einen dieser vielbeschworenen Mitnahmeeffekte“ vorstellen?

Genauso wenig wie in der Küche über das Brot entschieden wird, das Dir in der Küche fehlt,
wird im Personalbüro des Trägers über das Personal entschieden, das dem Träger zur Erbringung sozialer Dienstleistungen fehlt.

Gestatten Sie mir, in einem einfachen Bild, mit all den Unschärfen die so etwas hat, darzustellen, worum es geht:

Stellen Sie sich vor, Sie bestellen überall dasselbe Gericht, meinetwegen Pommes mit Ketchup. Sie gehen landesweit auf Einkaufstour, nachdem Sie zuvor genau definiert haben, wie „Ihre“ Pommes aussehen und schmecken sollen. Sie nennen diese Liste der erwünschten Zutaten nicht„Rezept“, sondern, „Leistungstyp.“

Natürlich schreiben Sie dann auch den Preis vor. Und nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass die Bude nebenan dasselbe für 3 Cent weniger liefert, haben Sie das Sagen.

Variationen in Herstellung und Rezeptur, egal von wem und warum vorgeschlagen, sind nicht erwünscht, weil sie die qualitative und quantitative Vergleichbarkeit gefährden.

Das bereits in den 60er Jahren gefällte Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach es bei
der Eingliederungshilfe nicht um die -wortwörtlich-: „möglichste Schonung der öffentlichen Finanzen“, sondern um die Wirksamkeit geht, es also nicht ausreicht, jedem ein Essen zu geben,
sondern Jeden satt zu bekommen, findet bei ihnen nicht so recht Zuspruch.

Lieber bilden sie Gruppen von Personen mit vergleichbarem Appetit.

Sie entwickeln eine skeptische Grundhaltung personenbezogenen Dingen gegenüber. Individualität stört Planung. Das reicht vom sogenannten „Einzelkostensatz“ bis zum „Persönlichen Budget“.

Sie lehnen sich zurück, schauen zu, wie sich an den einzelnen Buden die Gäste einfinden und freuen sich, dass alle überall das gleiche für nahezu denselben Preis bekommen. Trägervielfalt zum Einheitspreis.

Sie nennen das „Sozialplanung“ oder neuerdings auch „integrierte Sozialplanung“. Dass dies eigentlich „Steuerung“ meint, müssen sie ja niemanden ungefragt sagen. Die Anderen kriegen es sowieso raus.

Als die Rufe nach „ambulant vor stationär“, also nach einem „Heimlieferservice für Pommes“,
immer lauter werden, befürchten sie Kontrollverlust und legen nach vielen Diskussionen, aus
einem Mix von Skepsis und Gönnerhaftigkeit, fest, dass pro Tour exakt 12 Kunden zu beliefern
seien.

Nach einiger Zeit und intensiven Beratungen kommen sie dann überein, das Ganze noch
weiter aufzuweichen und nennen das Programm, wenn der Pommesbäcker also weniger als 12
Kunden pro Fahrt beliefert, wortgewaltig „abW-Flex“.

Sie erkennen: Nicht die Menge der Kunden ist entscheidend, sondern der Umfang ihrer Bestellung. Sie erheben statistisches Material und führen Modellrechnungen durch, die sie „fiskalische Auswirkungen der Ambulantisierung in der Eingliederungshilfe“ nennen. Das Ergebnis überrascht, wenn überhaupt, nur sie als Auftraggeber: Der Lieferservice ist pro Besteller um 703€ günstiger als die Versorgung an der Pommesbude.

Da ist zu begrüßen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention quasi das Pommes-Essen an
jedem Ort gestattet.

Wir nennen das „Inklusion“, aber eine gemeinsame Vorstellung davon haben wir noch nicht entwickelt. Vermutlich wird gerade deshalb so viel über „Inklusion“ geredet.

Nicht, weil Viele schon gut Bescheid wissen, sondern weil Wenige das Sagen haben wollen. Und, wie immer, wenn sich Sichtweisen wandeln, toben, geschickt und mehr oder weniger neutral verpackt, Kämpfe um die Deutungshoheit. Dieser hier wird auffallend heftig geführt, sodass man getrost davon ausgehen darf, dass es um viel geht.

Es wird vermutlich noch dauern, bis wir merken: „Inklusion“ können wir weder „exklusiv“ diskutieren noch „exklusiv“ umsetzen. Und statt unterschiedlicher Stellungnahmen einzelner Akteure braucht es vielmehr einen „Runden Tisch Inklusion“ aller am „Produkt Pommes“ Beteiligter, inklusiv der Verbraucher. Oft ist gerade Einfaches schwer zu denken.

Der Merksatz lautet: Inklusion geht nur inklusiv!

Deutlich muss gesagt werden: Verwaltungshandeln in der Sozialhilfe (und nicht nur da…) ist
auch immer ethisches Handeln. Ein Mitarbeiter aus der Verwaltung ist genauso am „Produkt
Teilhabe“ beteiligt wie derjenige Kollege, der sich sonntags aus dem Bett quält um seinen Frühdienst in der Wohnstätte anzutreten.

Es ist hat sich herumgesprochen, dass Probleme nicht mit den Mitteln und mit der Art des Denkens gelöst werden können, die zu ihrer Entstehung geführt haben. Zur Lieferung der „Bestellung Inklusion“ ist es erforderlich, das tradierte Denken zu ändern. Barrierefreiheit beginnt im Kopf.

Ich hege die Hoffnung, dass der „Fünfte Bericht zur Lage der Menschen mit Behinderung im
Freistaat Sachsen“ entsprechende Handlungsempfehlungen enthalten wird. Ein guter Schritt
wäre es, wenn aus einzelnen Handlungsempfehlungen ein sächsisches Maßnahmekonzept
würde.

In diesem Sinne wünsche ich der Fachtagung einen weiteren guten Verlauf bitte ausdrücklich
um Nachsicht für meine „zornigen Worte“, die der Verdeutlichung bestimmter Zusammenhänge
und Zustände dienen sollten.

Sie hätten ihre Wirkung verfehlt, wenn sich jemand persönlich angegriffen oder beleidigt fühlt. Auch bitte ich um Verständnis dafür, dass ich mich nicht der „leichten Sprache“ bedient habe.

Ich danke dem „Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik“ für die Mühe und den Aufwand, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen evaluiert zu haben und drücke meine Hoffnung aus, dass der Bericht mit dazu beiträgt, die Teilhabe der im Freistaat Sachsen wohnenden Menschen mit Behinderungen zu verbessern.


Das, wiederum, meine Damen und Herren, das liegt nicht unmaßgeblich an dem Auftraggeber
des Berichtes.


Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


 

Anmerkung:

Mit leichten Veränderungen erschien dieser Beitrag im selben Jahr auch in der Zeitschrift „Wörter im Wind“. Ebenso und mit dem Titel „Wege zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen – Ein Zwischenruf“  habe ich diesen Text im Jahr 2013 zur Fachtagung „Eigensinn in Sachsen“ in Oschatz vorgetragen.


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