Kolumnen
Werkstätten für behinderte Menschen: Die Sache mit der Selbstwahrnehmung
In wenigen Tagen beginnt in Chemnitz der Werkstättentag. Genaugenommen heißt der aber nicht mehr „Werkstättentag“, sondern „Werkstätten:Tag“ und dauert deutlich länger als einen Tag. Da lädt schon die geänderte Schreibweise zum Nachdenken ein…
Neugierig könnte man sich natürlich fragen, ob die neue Schreibweise auch für neue Inhalte steht. Entwarnung: Es handelt sich dabei um eine optische Veränderung, die sprachlich gar nicht darzustellen geht und, auch das sollte Erwähnung finden, mit leichter Sprache nichts zu tun hat.
Auf der Homepage der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten (BAG WfbM) las sich Mitte August die Ankündigung wie folgt: „Vom 20. bis 22. September 2016 werden in Chemnitz rund 2.000 Fachleute, viele von ihnen selbst Menschen mit einem Behinderung, über notwendige Entwicklungen und Herausforderungen der Inklusion diskutieren.“ (Ja, da stand tatsächlich „mit einem Behinderung“! Denkbar ist, dass zunächst die etwas freundlichere Formulierung „Handicap“ gewählt und dann wieder verworfen wurde, weil es sich ja um „Werkstätten für behinderte Menschen“ und nicht um „Werkstätten für Menschen mit einem Handicap“ handelt…)
Da steht uns also eine Veranstaltung ins Haus, in der 2.000 Fachleute über notwendige Entwicklungen und Herausforderungen der Inklusion diskutieren werden.
Und wir stellen uns die Frage: Wer oder was ist „Inklusion“, dass sie es schafft, 2.000 Fachleute herauszufordern?
„Aktion Mensch“ die ja auch Werkstätten für behinderte Menschen unterstützt, erklärt den Herausforderer der Werkstätten wie folgt:
„Inklusion heißt wörtlich übersetzt Zugehörigkeit, also das Gegenteil von Ausgrenzung. Wenn jeder Mensch – mit oder ohne Behinderung – überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit, dann ist das gelungene Inklusion…“
Ich kann nun wirklich nichts dafür, dass sich 2.000 Fachleute aus Werkstätten für Behinderte von dem „Gegenteil von Ausgrenzung“ herausgefordert fühlen.
Auch dass „jeder Mensch überall dabei sein kann“ ist nicht unbedingt etwas, was auf den ersten Blick vermuten lässt, dass es geeignet ist, eine solch große Zahl von Fachleuten zu provozieren. (Anm.: “provocare“ kommt aus dem lateinischen und bedeutet „hervorrufen“, „herausfordern“)
Vermutlich dürfte dem Veranstalter Ausgrenzung bekannt und vertraut sein, denn es ist ja nicht Ausgrenzung die als Herausforderung wahrgenommen wird, sondern es ist das Gegenteil von Ausgrenzung, das als Provokation empfunden wird...
Dafür, dass dies tatsächlich so sein könnte, sprechen übrigens Verlautbarungen des Deutschen Instituts für Menschenrechte, dem man ja nun nicht gerade unterstellen kann, eine bestimmte Klientel zu bedienen. Es sei denn, man bezeichnet diejenigen, deren Rechte bedroht sind, als „Klientel“.
Besagtes Institut hält das System der Behindertenwerkstätten aus menschenrechtlicher Perspektive für bedenklich. Als Begründung führt es aus, dass dort Menschen in „einer Art Sonderwelt“, isoliert von Menschen ohne Behinderung arbeiten.
Wenn nun die Werkstattfachleute „das Gegenteil von Aussonderung“ als „Herausforderung“ ansehen, dann macht die Kritik des Deutschen Instituts für Menschenrechte an den Werkstätten tatsächlich Sinn ...
Die Werkstätten, die sich zunächst „Werkstätten für Behinderte“ nannten, das mit den „Menschen“ kam erst 2001 hinzu, gibt es seit Mitte der 70er Jahre.
Just in dieser Zeit befassten sich die Experten des zweiten großen Teilhabebereiches für Menschen mit Behinderungen, dem Wohnen, gerade mit der Kritik an „totalen Organisationen“ (Goffman) und begannen mit der Auflösung großer Anstalten.
Das liest sich im Rückblick schon paradox: Während Werkstätten, deren Aufgabe die Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt war (und ist), immer größer wurden, befassten sich Heime und Anstalten mit den Fragen ihrer eigenen Auflösung.
Die Erkenntnis, dass man in einem Heim zuallererst lernen kann, in einem Heim zu leben, stieß nicht gerade zum bereichsübergreifenden Nachdenken an ...
Und während klar wurde, dass man nicht in einer „Therapie“- oder „Trainingsküche“ kochen lernt, sondern in seiner eigenen, schafften sich die Kollegen des Bereiches „Teilhabe am Arbeitsleben“ CNC-Maschinen an, um ihre Beschäftigten mit deren Bedienung vertraut zu machen, damit sie später mit diesem Know-how leichter eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten …
Ja, und während der eine Teilhabebereich u.a. von Klaus Dörner mit Sätzen wie: Heimleiter nähmen ihre Bewohner in die „Schutzhaft der Nächstenliebe“ oder: Heimleiter seien „Geiselnehmer“ abgewatscht und zur Selbstkritik genötigt wurde, freute sich der andere Bereich über die Zahlen der jährlichen Abgänger aus den Förderschulen, den Rechtsanspruch der Betroffenen auf einen Werkstattplatz und den nächsten Fachausschuss.
Und als dann die Bewohner eines Tages, nun als „Beschäftigte in der Reinigungsgruppe der WfbM“ tätig, ihr eigenes Zuhause putzen durften, war endgültig klar, dass sich zwei unterschiedliche Denkrichtungen entwickelt hatten …
Als sich vor einigen Monaten hier und da die Erwartung breitmachte, auch Werkstätten würden Mindestlohn zahlen, wurde von den Werkstätten sehr schnell deutlich gemacht, dass sieRehabilitationseinrichtungen seien.
Das erinnert stark an die Zeit der Pubertät: Man sucht sich und seinen Platz im Leben. Ständig ist man irgendwer und irgendwas, aber irgendwie noch nichts Eigenes und ahnt, ohne es selbst in Worte kleiden zu können, dass es ohne Identität keine Entwicklung gibt!
Welches ist die Identität der Werkstätten? Wer oder was sind sie?
Wer damit wirbt, „Just in Time“ zu liefern und sich darüber freut, dass seine Werkstatt als „Premiumwerkstatt“ bezeichnet wird, lässt nicht gerade erkennen, verstanden zu haben, welches der Grund seines Seins ist …
Welches Interesse an einer Einstellung von Menschen mit Behinderungen hat eigentlich ein Betrieb, der Aufträge an eine „Premiumwerkstatt“ vergibt?
Und wenn sich die Windrichtung ändert, wird vorgerechnet, dass einem deutschen Kämmerer nichts Besseres geschehen kann, als eine Werkstatt für behinderte Menschen in seinem Einzugsbereich zu haben…
Welches aber ist eigentlich die „Sozialrendite“ einer Rehaeinrichtung? Ist eine WfbM dann profitabel, wenn sie viele ihrer Rehabilitanden in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln (und begleiten …) kann, oder wenn sie aus 100 Euro, die in Werkstattleistungen investiert werden, eine Wertschöpfung von 108 Euro erzeugt? (Der geneigte Leser wird ahnen, wer wieantworten wird …)
Deshalb kurz und knapp: Eine soziale Einrichtung ist immer dann „profitabel“, wenn sie ihren Zweck erfüllt. Je besser sie dies tut, desto profitabler ist sie. Zweck einer Werkstatt für behinderte Menschen ist es nicht, eine möglichst hohe Wertschöpfung zu erzielen, sondern Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln.
Ohne Identität keine Entwicklung!
Wer aus Werkstättentag „Werkstätten:Tag“ macht, hat noch ein gutes Stück Weg vor sich!
Die Geschichte hat mehr als einmal gezeigt, dass sich der irren kann, der Dinge für unverrückbar hält und sich an seiner eigenen Stärke berauscht.
Auch hier gilt: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das allerdings setzt Identität voraus!
Die Zeichen stehen auf Sturm und es macht sich die Ahnung breit, dass entweder die Inklusion an den Werkstätten scheitern wird, oder die Werkstätten an der Inklusion.
So gesehen kann man nur hoffen, dass es in Chemnitz nicht allzu harmonisch zugehen wird ...
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