Vorträge und Referate

Was unseren Visionen (vom Wohnen für Menschen mit Behinderungen) im Wege steht


1. Einleitung und Vorbemerkungen

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

„Wer keine Visionen hat, hat auch keine Zukunft“ diesen Spruch las ich vor kurzem. Er bringt sehr deutlich auf den Punkt, wie eng eigentlich Vision und Existenz miteinander verknüpft sind.

Auch der Werbespruch der Deutschen Telekom „Die Zukunft wird aus Ideen gemacht“  weist in die Richtung. Deutlich wird, dass Vision und Idee so etwas sind, wie eine unabdingbare Voraussetzung, wenn es darum geht, Verantwortung wahrzunehmen.

Wir alle stehen in der Verantwortung, uns Methoden und Strategien erarbeiten zu müssen, die Ideen und Visionen sprudeln lassen. Die Notwendigkeit hierzu leitet sich aus dem Umstand ab, dass wir Verantwortung für Menschen haben, die sich uns anvertraut haben oder die uns anvertraut wurden.

Das verpflichtet zu mehr als nur zu einer fachlichen Professionalität. Es verpflichtet zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Wertesystem. Doch wie kann man heute noch an irgendetwas glauben? Es ist so, dass Vision und Hoffnung viel miteinander zu tun haben.

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. (Vaclav Havel).

So betrachtet hat Hoffnungslosigkeit mit „Sinnlosigkeit“ mit „Sinnleere“ und „Entsinnung“ zu tun. Wer kann schon leben und gute Ideen haben, wenn es keinen Sinn gibt?

‚Sinn’ hat dabei nichts mit der Kalkulation von Chancen auf Realisierung von Utopien zu tun, sondern der Sinn begründet sich letztendlich im eigenen Sein. Es macht keinen Sinn zu sein, wenn alles sinnlos ist. Sinn und Sein. Das klingt ähnlich und hat auch sonst viel miteinander zu tun.

Meinen Vortrag habe ich so gegliedert, dass ich zunächst einige Dinge anspreche, die dafür verantwortlich sind, dass es mit unserer ‚Visionierfähigkeit’ bzw. ‚Visionierfreudigkeit’ manchmal nicht so recht klappen will.

Ich habe das „Visionsblockaden“  genannt. Wer oder was hindert uns eigentlich daran, Visionen zu entwickeln? Das soll im ersten Teil näher betrachtet werden.

Im zweiten Teil möchte ich gern Vorschläge und Tipps zur Überwindung von Visionsblockaden geben. Dabei geht es im wesentlichen darum, sich Prozesse bewusst zu machen und sich selbst als den Schlüssel zu begreifen, mit dem jede Veränderung beginnt.

Der dritte und letzte Teil soll die beiden Stränge wieder zusammenführen und vertiefen. Denn letztendlich kann man Visionieren nicht einfach erlernen. Es hat eher mit der Erarbeitung einer Position zu tun. Kernaussage: Damit wir etwas ändern können, müssen wir uns ändern.

Das, was uns am Visionieren hindert, was das Denken einengt und die Luftballone nicht fliegen lassen will, lässt sich bei grober Betrachtung zunächst in zwei Kategorien einteilen: Nämlich in die

extrapersonalen und die intrapersonalen Visionsblockaden.

Das meint also, dass es bremsende Faktoren gibt, die von außen auf uns einwirken, oder sich von innen ausbreiten.

Damit komme ich zum

2. Hauptteil


Zu einigen intrapersonalen Visionsblockaden


2.1.1 Blockade durch Denken

„Das Wichtige im Leben ist immer einfach!“. In diesem schlichten Satz steckt viel Wahrheit. Das Wichtige im Leben ist einfach. Wir machen es nur kompliziert. Das geht damit los, dass mein Vortrag gut klingen muss, angereichert mit interessanten Fremdwörtern und geht weiter bis hin zu den ganzen Qualitäts- und Leitbilddiskussionen.

Wir verkomplizieren so lange, bis keiner mehr Bescheid weiß. Ganze Zweige leben davon. Da saugt man sich irgendein Thema für eine Diplomarbeit aus den Fingern, das sowieso keinen interessiert. Unser Wissen entwickelt sich nicht gradlinig, sondern in endlosen Schleifen und Kurven.

Ein wesentliches Instrument in unserem beruflichen Alltag ist der Verstand. Unser Denken ist gefordert und nicht selten wird der Verstand genötigt, das zu denken, das zu erledigen und sich mit jenem zu befassen, was gerade vor uns auf dem Schreibtisch liegt.

Der Alltag okkupiert unseren Verstand und zwängt ihn in eine bestimmte Denkrichtung. Da liegt vor mir das SGB und will von mir, dass ich es lese. Und selbst wenn ich es vielleicht auch noch wollen wollte, liegt daneben schon das neue Heimgesetz und will ebenfalls geistige Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und neben dem Heimgesetz liegt die neue Richtlinie des Landeswohlfahrtsverbandes, daneben der Rechtsdienst der Lebenshilfe, daneben liegt eine interessante Diplomarbeit über die Zukunft der Wohlfahrtspflege in Deutschland und daneben ... und daneben ... und daneben ...

Ein Verstand, der sich nahezu täglich durch diese und ähnlich opulente Speisekarten futtern muss, wird über kurz oder lang an Verstopfung leiden. Sie wissen ja: ein voller Buch studiert nicht gern. Und abgewandelt ließe sich sagen: Ein voller, ein fremdbestimmter, Kopf visioniert nicht gern.

Das Problem ist, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Der Verstand, der das Ganze denken, sehen und bewerten sollte, sieht den Wald nicht mehr, sieht nicht mehr die Zusammenhänge.

Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass wir so viele Informationen verfügbar haben wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit und dass wir es nicht mehr schaffen, sie zu verknüpfen.  

Das bezieht sich natürlich zunächst auf die Informationen untereinander, aber, tragischer ist es nach meiner Ansicht, dass wir sie auch nicht mehr mit uns selber verknüpfen können: mit unserer Ethik, mit unserem Credo, mit unserem Menschenbild und mit unserem eigenen fachlichen Anspruch.

Wir sollten weniger Energien in die Frage investieren, wo es hingeht, als mehr in die Frage, wohin wir wollen.

Das Wissen muss nicht nur mit Wissen verknüpft werden, sondern es braucht zuallererst eine Rückbindung ins eigene Ich. Ohne eine solche Rückbindung werden sich schwerlich Visionen entwickeln lassen. Wenn sich Wissen mit Wissen verknüpft, wird es Szenarien und Strategien entwickeln können, aber keine Visionen.

Auch in der Behindertenhilfe ist die zentrale Frage nicht die, wohin sich die Behindertenhilfe denn entwickeln wird, sondern wohin wir sie entwickelt haben möchten.

Haben Sie schon einmal daran gedacht, einen Versorgungsvertrag zu kündigen, wenn Sie sehen, dass sich etwas nicht so entwickelt, wie Sie es entwickelt sehen wollen?

Damit meine nicht eine plumpe Gutsherrenmentalität, sondern ich meine damit, die anwaltschaftliche Vertretung der Interessen von Menschen mit Behinderungen. Wir müssen unsere Stimme erheben. Das muss so glaubhaft sein, dass allen klar ist, dass wir uns nicht aus Egoismus sondern aus Verantwortung zu Wort melden und uns einmischen.

Leider, auch das muss ausgesprochen werden, sind wir hier in der Vergangenheit den ein oder anderen Beweis hinsichtlich der Lauterkeit unserer Motive schuldig geblieben.

Eine große Einrichtung der Behindertenhilfe hat vor einiger Zeit den Hilfebedarf der von ihr betreuten behinderten Menschen erhoben und quantifiziert.

Das Ergebnis war fatal. Es reichte, überspitzt gesagt, nur für ‚Satt und Sauber’. Mit dem Ergebnis fuhr die Leitung zum überörtlichen Kostenträger und teilte ihm mit, dass man aufgrund dieses Ergebnisses sich nicht mehr länger in der Lage sähe, die Verantwortung zu tragen. Man hätte sich entschlossen, den Versorgungsvertrag zu kündigen.

Und, was passierte? Nach einem Gespräch auf höchster Ebene bekam die Einrichtung insgesamt über 150 Planstellen genehmigt!

Auch wenn es sich für unsere Ohren zunächstungewohnt anhört: Die Behindertenhilfe wird so werden, wie wir sie wollen. Und darin besteht unsere zentrale Verantwortung: klar und entschlossen wissen zu müssen, was wir wollen und dann das zu tun, was wir wissen.

Um wieder visionieren zu können, müssen wir unsere Gedanken ordnen und das Wissen in Zusammenhänge bringen. Nichts wird uns dieses abnehmen. Immerhin kann sich ja auch eine Firma nach der DIN-ISO zertifizieren lassen, die Rettungsringe aus Beton herstellt.

Wie aber ist es möglich sein Wissen mit dem eigenen Kredo zu verknüpfen? Vielleicht fängt es damit an, dass wir erstens lernen, auf unser Kredo zu hören und dass wir zweitens lernen, miteinander über unser Kredo zu reden.

Deutlich wird, dass es nicht ausreicht, einfach nur viel zu wissen, sondern dass es darauf ankommt, zu wissen, was, bzw. woran, man glaubt.

Neulich beklagte ein hoher Mitarbeiter, dass er es nicht verstehen könne, dass sich die Mitarbeiter seiner Meinung nach zu wenig mit ihrer Institution und mit dem Diakonischen Grundwerten identifizierte.

Fragen sie einmal, welcher Mitarbeiter, der in der Altenhilfe tätig ist, später einmal in dem Heim gepflegt werden möchte, in dem er jetzt selber pflegt.

Auch in der Behindertenhilfe werden Sie vermutlichüberwiegend Mitarbeiter finden, die sich sozusagen nichts weniger vorstellen können, als im Bedarfsfall ihre eigene Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu müssen.

Ist das nicht ein Alarmzeichen, wenn wir wissen, wie Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen beschaffen sein sollten und sie ihnen nicht gewähren?

Ich sage das bewusst so deutlich. Die Mär, dass wir gut sind und noch besser sein könnten, wenn man uns denn finanziell üppiger ausstattete, ist höchst unehrlich und sollte uns wesentlich schwerer von den Lippen kommen.

Ich glaube, dass es unseren Kopf freier machen und wesentlich mehr Kreativität in uns frei setzen wird, wenn wir auf den Nutzer unserer Dienstleistungen schauen statt auf unsere Finanziers.

Beim Blick auf einen Menschen mit Behinderungen, also auf unsere Klienten, fällt zunächst etwas sehr einfaches, aber gern übersehenes auf: Nämlich: bis zu seinem Einzug ins Heim hat er gezeigt, dass er sehr wohl mit Assistenz zu Hause leben kann.

Ein Mensch mit Behinderungen hat zunächst einmal einen Bedarf an Assistenz. Erst von dem Zeitpunkt, ab dem er im Heim lebt, hat er auch einen Integrationsbedarf.

Es fällt ferner auf, dass Menschen mit Behinderungen nach der Untersuchung „Menschen in Heimen“ zu über 90% nicht freiwillig ins Heim kamen, sondern dass ihr Soziales Umfeldes dies für sie entschied.

Auch ist folgender Umstand auffällig: Wir reden gern davon, dass wir Dienstleister sind und bezeichnen die Menschen mit Behinderungen, die in unseren Heimen leben, als Nutzer.

Doch wenn wir genauer hinschauen, fehlen klare Dienstleistungsparameter. So gehören zu einer Dienstleistung folgende Eigenschaften:

  1. Eine Dienstleistung ist inhaltlich beschreibbar
  2. Eine Dienstleistung ist quantifizierbar.

Wenn dem Heimleiter ein Elternpaar gegenübersitzt, das dringend einen Heimplatz sucht, weil die Mutti ihren dritten Bandscheibenvorfall hatte und es zu Hause beim besten Willen einfach nicht mehr geht, dann ist der Grund zur Heimaufnahme vordergründig zwar die Behinderung, der eigentliche Grund ist aber der Bandscheibenvorfall.

Wie soll da eine Dienstleistung beschrieben werden?

Die Kriterien einer Dienstleistung wären erfüllt, wenn das Elternpaar dem Heimleiter gegenüber säße und zu ihm sagte, dass sie ihr Kind gern für zwei Jahre zu ihm geben möchten, weil er die besten Fachleute habe: weit und breit die besten Logopäden, das beste Therapiekonzept und und und.

Wenn Sie ihn dann beauftragen, in einer klar umrissenen Zeit bestimmte Dinge zu fördern und mit ihm Ziele und Zeiträume sowie die Überprüfung von Zielen verabreden, ist es möglich, von einer Dienstleistung zu reden.

Fragen Sie einmal Mitarbeiter in Heimen, wann denn ihrer Meinung nach der Bewohner X ausziehen könne. Sie werden Ihnen sagen, dass Bewohner X nicht mit Geld umgehen kann, mit jedem Fremden mitgehen würde, nicht verkehrssicher sei und deshalb noch bleiben müsse. So weit so gut.

Aber kam er denn deshalb ins Heim? Saß dem Heimleiter denn wirklich damals ein Elternpaar gegenüber, das ihm ihr Kind deshalb anvertraute, weil es nicht mit Geld umgehen konnte, mit jedem Fremden mitging und im Straßenverkehr nicht sicher war?

Auch wenn das vielleicht etwas pauschal dargestellt ist, ist die Antwort klar.

Wir müssen festhalten, dass zwischen dem Grund zur Heimaufnahme und dem Grund zur Entlassung in der Regel kein logischer Zusammenhang besteht.

Wie sollen also Mitarbeiter in Heimen wissen, wann jemand ausziehen kann, wann sie sozusagen ihre Aufgaben erfüllt haben, wenn zu Beginn keine Aufgaben definiert wurden.

Natürlich wird versucht, Dienstleistungen zu beschreiben. Doch auch hier wird ein kapitaler Irrtum begangen. So ist es nicht üblich, eine Dienstleistung dann zu formulieren, wenn man bereits Nutzer ist.

So wird ein Mensch mit Behinderungen im Heim zuallererst die Hilfe bekommen, die er braucht, um im Heim leben zu können.

Damit nicht der Eindruck entsteht, ich wolle über Pro und Kontra von Heimen reden, möchte ich abschließend zu diesem Teil das Vorgesagte noch einmal in den Kontext des Referates stellen:

Und, so glaube ich, dass es unseren Kopf freier machen und wesentlich mehr Kreativität in uns frei setzen wird, wenn wir auf den Nutzer und unserer „Dienstleistungen“ schauen statt auf unsere Finanziers.

Es wird sich wie ein roter Faden auch durch die folgenden Punkte ziehen: Zu Beginn jeden Visionierens muss der Mut aufgebracht werden, die Realität anzuschauen und Worte und Bewertungen für das zu finden, was um uns herum vorfindbar ist. In diesem Vorfindbaren gilt es, den eigenen Anteil zu suchen. Dort, wo wir uns als Bestandteil eines Problems begreifen, haben wir den Schlüssel zu Lösung eigentlich schon in der Hand.

Und so glaube ich, dass es nicht unsere zentrale Aufgabe ist, beispielsweise die Kostenträger zu ändern. Es wird sie ändern, wenn wir uns ändern, wenn wir nach der kritischen Schau auf das Vorfindbare uns rückbinden mit dem eigenen Kredo und dem biblischen Verständnis von Diakonos.

Ähnlich wie in der Industrie, sollten auch wir sowohl in Institutionen als auch in Verbänden kleine Gruppen von befähigten Mitarbeitern installieren, die miteinander denken. Gruppen, in denen rückwärtsorientiert nach Vorne geschaut wird, in denen man querdenken darf.

Eine Arbeitsgemeinschaft ‚Zukunft’ zum Beispiel. Insolchen Gruppen brauchen wir keine abgehobenen Phantasten, sondern genau das Gegenteil: geerdete Phantasten. Menschen, die zuallererst traurig sind über das, was sie vorfinden und das Vorfindbare deshalb verändern wollen, weil dies zu ihrem Verständnis von christlich motivierter Beauftragung zur Sorge um den Nächsten gehört.

Zunächst einmal brauchen wir aber Mut, die Dinge um uns herum so anzuschauen, wie sie sind und sie dann mit dem eigenen Kredo konfrontieren und abgleichen. Ich glaube: Wenn wir uns in uns (wieder-)finden, lässt sich der Rest auch finden. Verstehen Sie?: Denken verträgt keine Kompromisse, wenn aus ihm Visionen entwachsen sollen.


2.1.2 Blockade durch Tradition

Etwas so zu machen, wie es schon immer gemacht wurde, hat Vorteile. Das gibt Sicherheit. Das gibt Orientierung. Da liegt man auf alle Fälle in der Norm und bewegt sich so, wie es alle erwarten und allen vertraut ist.

Es gilt aber klar festzuhalten: Tradition ist kein eigener Wert. Sie darf nicht sich selber verpflichtet sein, sondern ihrer Gründungsidee. Wenn wir vorhin von der Rückbindung mit dem eigenen Kredo gesprochen haben, geht hier um die Rückbindung mit der Gründer- und Ursprungsidee.

Wenn wir uns deshalb um Menschen kümmern, weil wir dies schon 100 Jahre tun, haben wir eine sehr schmale Begründung für unser heutiges Tun.

Welches ist eigentlich der Impuls zur Gründung Ihrer Einrichtung und Ihres Trägers gewesen?

Wichtig ist, dass wir uns bei einer Rückbesinnung auf Tradition und dem Propagieren traditionalistischer Werte nicht Sichtbarem verpflichtet fühlen. Nicht Häusern, Grundstücken und Immobilien.

Ist eigentlich die Behindertenhilfe noch unsere Spielwiese? Es ist zumindest klar, dass es den Menschen mit Behinderungen nicht schlechter gehen würde, wenn statt Ihres Logo ein anderes Logo an der Eingangstür hängen würde.

Sicherlich leiten sich unsere Aktivitäten sich aus dem Betroffensein über soziale Missstände ab. Mittlerweile aber sind wir über das, was der Staat mit UNS macht, mindestens genauso betroffen wie über das, was er mit Sozialhilfeempfängern macht.

Wir müssen unser Schicksal von dem der behinderten Menschen entkoppeln, dann können wir glaubhafter sein.

Wenn wir über die Tradition nachdenken, müssen wir auch über das Dritte Reich reden. Welche Lehren können wir ziehen, damit sich diese Dinge nicht wiederholen? Eines stimmt nicht, wenn wir selbstkritisch uns unserem Tun in dieser Zeit stellen: Es ist nicht wahr, dass Heime Sicherheitgeben. Historisch ist es nicht haltbar, dass dies so ist. Im Gegenteil, wenn ein Heimleiter seine Bewohner vor dem Ermorden retten wollte, musste er die Angehörigen bitten, ihr Kind wieder zu sich zu nehmen.

Was ist die Lehre, die zu ziehen ist? Die Antwort ist die, dass wir, wenn wir uns um Menschen kümmern, die auf Hilfe Anderer angewiesen sind, nicht das machen und ihnen das an Hilfen gewähren dürfen, was ihnen von staatlicher Seite zugestanden wird.

Wenn unterstellt werden darf, dass in der Nazizeit in den Heimen keine blutrünstigen Monster gearbeitet haben, sondern Menschen wie Du und ich, dann erklärt sich ihre Schuld wohl am ehesten darin, dass sie dem staatlichen und gesellschaftlichen nicht widerstanden haben. Auf eine einfache Formel gebracht kann gesagt werden, dass ihre Schuld darin bestand, dass politisch Gewollte bedient und ihm zugearbeitet zu haben.

Also ist eine der Lehren doch eigentlich die, dass wir heute nicht ungeprüft und unkritisch das machen dürfen, was politisch gewollt von uns erbeten und gefordert wird. Nicht sozusagen Erfüllungsgehilfen des Staates, sondern Mahner und aktive Gestalter.

Wenn wir wollen, dass sich mehr Visionsfreudigkeit, mehr geistige und geistliche Kreativität einstellt, dann sollten wir uns nicht auf Tradition berufen, die sich stolzgeschwellt an die Brust der langen Dauer unserer Existenz klopft, sondern dann sollte das leuchten und wiederfindbar und lebendig sein, was uns werden ließ: Christlich orientierte Verantwortung, die konstruktive Beiträge zur Beseitigung sozialer Missstände leistet und sich zu dieser Verantwortung ausdrücklich bekennt.

 

2.1.3 Blockade durch das Rollenverständnis

Vorhin erzählte ich kurz von der Einrichtung, die bereit war, und hoffentlich aus Überzeugung und nicht aus Strategie, den Versorgungsvertrag zu kündigen.

Der eigentliche Grund, warum ich das überhaupt erzählt habe ich der, dass dieser Bericht meiner Meinung gut verdeutlicht, dass unsere Arbeit mehrdimensional ist.

Wie sehen die klassischen Leitbilder Diakonischer Träger aus? Welche Rückschlüsse auf das eigene Rollenverständnis lassen sich beim Studium von Leitbildern ziehen? In welchem Zusammenhang stehen Leitbild bzw. Rollenverständnis und Visionen?

Wenn das Leitbild das verschriftlichte Rollenverständnis ist, geben wir im Leitbild Anderen zu lesen, wie wir uns selber sehen und verstehen. Wir kommunizieren Anderen unsere Annahmen über uns und teilen mit, warum wir was wie tun.

Wie ausgebildet ist unser Wissen über uns?

Mitunter bin ich überrascht, was in solchen Leitbildern zu lesen ist. Es ist natürlich korrekt, von gelebter Nächstenliebe, vom lebenslangem Bleiberecht für die, um die man sich sorgt  und von der Liebe Gottes zu reden. Auch ist es korrekt, wenn ein Träger in seinem Leitbild sagt, dass er sich als Kind Gottes sieht, der seine Verantwortung darin sieht, andere Kinder Gottes auf dem Weg in den Himmel zu begleiten.

Wie ausgebildet ist unser Wissen über uns? Wie nehmen wir uns wahr? Wie definieren wir uns im Geflecht des Alltags? Welche Stand-Punkte haben wir? Wovon gehen wir aus? Wie bewerten wir die Dinge um uns herum und welchen Platz geben wir uns darin?

Unsere Leitbilder drücken unser Selbst-Bewusstsein aus. Zum Vorgehen der Einrichtung, die dem Kostenträger die Versorgungsverträge zurückgeben wollte, könnte man auch sagen, dass sie sehr selbst-bewusst aufgetreten sind.

Das Beispiel zeigt noch etwas: Unsere Arbeit hat eine starke politische Dimension. Seien wir doch ehrlich: wie in Deutschland für Menschen mit Behinderungen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft realisiert wird, ist keine fachliche und auch keine christliche Frage, sondern eine politische.

Deshalb vermisse ich in vielen Leitbildern ein Selbst-Bewusstsein, auch Gestalter des politisch Gewollten und damit Partner der Politik zu sein.

Ob es für Menschen mit Behinderungen besser ist, überwiegend in Heimen und Anstalten zu leben oder mit Assistenz in der eigenen Häuslichkeit, ist doch fachlich längst beantwortbar.

Inwieweit Werkstätten für Behinderte geeignet sind Menschen mit Behinderungen für den ersten Arbeitsmarkt zu qualifizieren, muss in Anbetracht der Vermittlungsquote gar nicht diskutiert werden. Wir sollten deshalb nicht so sehr über fachlich-inhaltliche Fragen miteinander diskutieren, sondern über ihre politische Umsetzbarkeit.

Zu unserem Rollenverständnis muss gehören, dass wir uns ganz klar als Partner der Politik verstehen. Denn wir realisieren einerseits was sie vorgibt, andererseits wirken wir auf sie ein, das vorzugeben bzw. zu ermöglichen, was wir fachlich für geboten halten. Viel zu lange konnte die Politik machen, was sie wollte, weil wir untereinander und miteinander zu tun hatten.

Im Juni 2001 ist von der Forschungsarbeitsgemeinschaft „Menschen in Heimen“ an die Fraktionen des Deutschen Bundestragen eine Aufforderung zur Bildung einer Kommission zur Enquete der Heime ergangen.

Das ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Mit einigen Zahlen, die Sie hoffentlich nicht langweilen, möchte ich den Blick für die größeren gesellschaftspolitischen Zusammenhänge öffnen:

  • Cirka 1 % der deutschen Bevölkerung lebt in Heimen, etwa 140.000 Menschen und 660.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen.
  • Von den jährlich gut 30 Milliarden DM Eingliederungshilfe nach dem BSHG entfallen 3% für die ambulante Sorge, aber 97% für die stationäre Eingliederungshilfe der Behindertenhilfe.
  • Die Zahl der Heimplätze wird in den nächsten Jahren kontinuierlich steigen. Eigene Hochrechnungen ergeben, dass bei gleichbleibender Inanspruchnahme im Jahr 2015 über 960.000 Menschen in Heimen leben werden.
  • Die größte Altersgruppe werden Menschen mit über 80 (570.000) und über 85 Jahren (400.000) bilden. Diese Berechnungen beziehen nur die demographischen Veränderungen mit ein. Noch nicht berücksichtigt ist, dass die Verweildauerverkürzungen der Krankenhäuser bei Älteren - aber wohl auch bei psychisch Kranken - zu einem weiteren Anstieg der Heimaufnahmen führen wird.
  • Der medizinische Fortschritt hat es möglich gemacht, dass die Lebenserwartung behinderter Menschen gestiegen ist. Durch die Nazi-"Euthanasie"- Mordaktionen wurde eine ganze Generation behinderter Menschen nahezu "ausgelöscht". Erst in den nächsten Jahren wird die Zahl der altgewordenen Behinderten in der Bundesrepublik sich der anderer Länder angleichen.
  • Bis zum Jahr 2015 wird außerdem die Zahl der Drei- und Mehr-Personenhaushalte abnehmen. Der Anteil der Ein- und Zwei-Personenhaushalte wird dann bei 70,3% liegen. Das sind 1.455.000 Haushalte mehr als im Jahr 2000. Es werden also mehr ältere und behinderte Menschen allein leben, das Sorgepotential der Familien wird entsprechend abnehmen. In Zukunft werden noch mehr Menschen als bisher - bei gleichbleibender Schlechterstellung der ambulanten Sorgestrukturen - auf die Versorgung in einem Heim angewiesen sein.
  • Schließlich führt dieselbe demographische Entwicklung zu einem Absinken der Erwerbsquote, was zu geringeren Einnahmen für die finanzielle Form unserer Sorge-Solidarität für Ältere und Behinderte führt. Erst ein Einwanderungssaldo von 200.000 Menschen jährlich, die alle in den Arbeitsmarkt integriert werden müssten, würde zu einer wenigstens leichten Steigerung der Erwerbsquote führen. Bei gleichbleibender Finanzierungspolitik müssten in Zukunft also mehr Hilfebedürftige mit weniger Geld versorgt werden, was angesichts der heute schon vorhandenen Unterversorgung kaum denkbar erscheint. Die Zukunftsbewältigung kann daher nur gelingen, wenn für diese wichtigen Fragen neue Antworten gefunden werden.’  

Wie wäre es mit einem Arbeitsausschuss ‚Politik’?  Wie wäre es mit einer Zukunftswerkstatt, damit nicht das eintritt, was wir befürchten, sondern das, was wir wollen! „Weiter so“ geht nicht weiter so!

Aus Angst, das Falsche tun zu können, tun wir lieber nichts. Dafür werden uns die behinderten Menschen eines Tages abstrafen. Nicht dafür, dass wir nicht immer alles richtig gemacht haben, das ist okay. Nichts zu tun, das ist viel schlimmer.

 

2.1.4  Blockade durch Abgrenzung

Vor einiger Zeit unterhielt ich mit einem Fabrikanten, der Verpackungsmaschinen herstellt. Er liefert unter anderem auch Maschinen zum Verpacken von Lego-Spielzeug. Nachdem wir uns eine Weile über Kosten, Umweltbelastung und dergleichen unterhielten, sagte er plötzlich, dass es ohne Weiteres möglich wäre, billigere, weniger umweltbelastende und weniger luxuriöse Verpackungen anzubieten. Aber, Zitat: „Das sagen wir denen doch nicht.“

Wem sagen wir was und was halten wir zurück? Können wir Visionieren, wenn wir uns abgrenzen? Brauchen wir nicht viel mehr einander und potenziert sich nicht die Visionsenergie, wenn wir offen miteinander umgehen?

Eine Mitarbeiterin, die sich regelmäßig in einer trägerübergreifenden Arbeitsgruppe zum ambulant betreuten Wohnen trifft, sagte mir, dass sie eigentlich gar nicht mehr dorthin gehen wolle, weil sie das Gefühl habe, abgeschöpft zu werden und sozusagen nichts anderes täte, als den Konkurrenten ihr fachliches Know-how zu liefern.

Können zwei, die einem Dritten helfen, eigentlich Konkurrenten sein? Wer nimmt wem was weg? Worum konkurrieren wir? Und, braucht christliche Nächstenliebe, auch wenn sie sich institutionalisiert haben sollte, tatsächlich einen Vorsprung, einen Marktvorteil?

Wir konkurrieren vermutlich nicht um das Wohl unseres Nächsten, sondern eher um das eigene Wohlergehen.

Können wir gute Ideen entwickeln, wenn wir uns beargwöhnen und uns abgrenzen und nicht alles sagen, was wir wissen? Was wollen und was können wir bewegen, wenn wir nicht einander sagen, was uns bewegt?

Denn eines ist klar: Dort wo Konkurrenz, Argwohn, Abgrenzung und Neid regieren, können keine Visionen gedeihen.

Ich möchte nun


2.2  Zu einigen extrapersonalen Visionsblockaden

Kommen. Zunächst:

2.2.1  Blockade durch gesetzliche Vorgaben


Wenn wir ausschließlich in dem Rahmen tätig blieben, den die Richtlinien, Gesetze, Ausführungsbestimmungen und Verordnungen uns gestatten, bräuchten wir vermutlich überhaupt keine Visionen. Denn da ist alles geregelt, von der Heimpersonalverordnung über Handläufe in den Gängen bis hin zu Nettogrundrissflächen.

Wer Visionen hat, will etwas verändern. Wenn wir von Katastrophen und Unglücken hören, heißt es nicht selten, dass den Opfern und/oder Hinterbliebenen schnelle und ‚unbürokratische’ Hilfe zugesagt wird.

Es scheint sich offensichtlich auszuschließen: Schnelle Hilfe und Bürokratie. Und der Umkehrschluss ist dann: bürokratische Hilfe kann keine schnelle und damit keine situative und unmittelbare Hilfe sein.

Wir haben es aber mit Menschen zu tun, deren Bedarfe nicht statisch sind. Hier ist wenig prognostizierbar. Und eine Richtlinie ist immer nur eine Richtlinie.

Wenn wir eine Zweckbindung von mehreren Jahrzehnten auf unseren Häusern haben, können wir nicht spontan und situativ sein. Und nicht nur das: Wir können auch unseren Auftrag, ambulant vor stationär, nicht erfüllen.

Wenn von uns eine 96%-ige Auslastung in der stationären Behindertenhilfe gefordert wird, können wir nicht spontan und situativ sein. Wenn wir ein Tarifsystem haben, dass sich am Status des Arbeitsnehmers orientiert, können wir nicht spontan sein. Und wenn wir Leistungstypen haben, Hilfebedarfsgruppen und sonstige Finanzierungskonstrukte, können wir nicht spontan sein.

Wenn wir zu Spontaneität, dieser Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Visionen kommen wollen, müssen wir auf die Gesetzgebung dahingehend einwirken, dass sie unbürokratischer wird.


2.2.2 Blockade durch Betroffene

Es ist doch völlig klar, dass es unterschiedliche Auffassungen zwischen den Betroffenen und den Professionellen geben muss. Stellvertretend für diesen Konflikt sei hier auf der einen Seite die Erwartung nach größtmöglicher Sicherheit benannt, das Eltern behinderter Kinder an uns stellen, und unserer heilpädagogisch-professionellen Sichtweise auf der anderen Seite.

Höchstmögliche Sicherheit heißt mit Sicherheit ‚Heim’. Wieso bedienen wir dieses Klischee, das geschichtlich überhaupt nicht haltbar ist?

Wir müssen Konstrukte schaffen, die die Betroffenen stärken und sie objektiv informieren. Sicherheit und Struktur, bzw. Sicherheit durch Struktur ist eine Variante, es ist aber kein kausaler Zusammenhang gegeben. Das müssen wir verdeutlichen.

Stärkung des Betroffenen heißt auch, ihn zum Souverän zu machen. Wie wäre eigentlich ein Versorgungssystem in der Behindertenhilfe, das sich analog der medizinischen Versorgung der Bevölkerung aufbaut?

Niedergelassene Pädagogen, die ihre Zulassung durch die Sozialbehörden haben. Der Krankenschein wird zum Hilfeplan. Und die Leistungen werden auf dieser Grundlage abgerechnet. Vergessen wir nicht: Die Betroffenen sind keine Bittsteller und keine ‚unnützen Esser’, sondern Menschen mit einem Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe.

Und das, was für Pädagogen auf der Ebene der Prozessqualität schon lange gilt, nämlich dass ihr Ziel darin besteht, sich überflüssig zu machen, muss seinen analogen Niederschlag in der Überflüssigmachung von Strukturen finden.

Womit ich eigentlich schon beim nächsten Punkt angelangt bin. Ich komme zur

2.2.3  Blockade durch eigene Strukturen


Einrichtungen haben sich eingerichtet. Träger sind träge. Und Immobilien machen immobil. Das gilt nicht pauschal und in jedem Falle, aber die Praxis zeigt, dass es mehr als nur ein zugegeben etwas bösartiges Wortspiel ist.

Vor einigen Jahren wurde während einer Tagung des Bundesverbandes Evangelische Behindertenhilfe ein provozierendes Anspiel vorgetragen:

Vor einem fiktiven Heimleiter stand ein ebenso fiktiver Bewohner, der dem Heimleiter mitteilte, dass er ausziehen wolle. Die Argumente des Heimleiters waren die, dass er den Bewohner wohl verstehen könne, ihn aber doch bittet zu bleiben, da er, der Heimleiter, sonst nicht wisse, was er mit seinem neu erbauten Heim anfangen solle.

Wir sind das Äquivalent der Verwaltung. Wir sind die real gewordenen Paragraphen. Was wir sozusagen in der Behindertenszene vorfinden, ist nicht eine bunte Vielfalt, sondern eine statische Umsetzung gesetzlicher Rahmenbedingungen. Wenn Gesetze, Richtlinien und Verordnungen, also all das, was uns bevormundet, statisch sind, ist ganz klar: Wir schaffen Statisches.

Und dann ist es so wie mir ein Heimleiter sagte, dass er noch mal den MDK in seine SGB IX-Einrichtung holen wolle, weil er noch 11 Personen mit der Pflegestufe drei braucht, da sein Heim sonst nicht mehr wirtschaftlich sei.

Und wie ist es mit dem allseits bekannten Begriff der strukturellen Gewalt? Weil der Spätdienst um 21.00 Uhr nach Hause geht, haben nun bitteschön alle Heimbewohner ins Bett zu gehen. Und wer dann mosert und im Frust seinen Schlafanzug zerreißt, den er schon vor dem Abendessen angezogen hat (man ist ja allein im Spätdienst) dem wird unter Umständen dann eine Verhaltensauffälligkeit attestiert.

Wenn wir Veränderungen in der Behindertenhilfe wollen, dann müssen wir darauf drängen, dass die Hilfeleistungen nicht primär den Strukturen zugute kommen, sondern dem einzelnen anspruchsberechtigten Menschen.

„Individuum statt Institution“ –lautet die Richtung, in die wir gehen müssen. Wir selbst sollten die ersten sein, die hier gezielt, planvoll und konsequent beginnen, uns zurückzunehmen. Wenn wir uns Strukturen klammern, werden wir mit den Strukturen verschwinden. Wenn wir uns aber -um im Bilde zu bleiben- an die behinderten Menschen klammern, werden wir bleiben.

 Wir müssen begreifen, dass wir mit den gegenwärtig vorgehaltenen Angeboten zu unflexibel auf die dynamischen Prozesse reagieren können. Visionen können immer da reifen, wo wir in der Lage sind, uns umgebende Strukturen als variabel und temporär zu denken.

 

2.2.4  Zum Schluss: Blockade durch gesellschaftliche Erwartungen

Abschließend einige wenige Bemerkungen zu den gesellschaftlichen Erwartungen und ihren Einfluss auf unsere Fähigkeit des Visionierens.

Wir sollten uns darüber versuchen zu verständigen, wer denn eigentlich warum was von uns erwartet. Und wenn wir hierüber ein wenig Klarheit erlangt haben, sollten wir diese Erwartungen mit dem abgleichen, was ich vorhin als das eigene Kredo bezeichnet habe.

Es gilt auch hier, dass wir wachsam sein und nach Einflussmöglichkeiten suchen sollten, auf einzelne gesellschaftliche Gruppen einzuwirken, damit wir zu identischen Erwartungsvorstellungen gelangen.

Was sind die Erwartungen der heutigen Gesellschaft an uns und an Menschen mit Behinderungen? Das legendäre Flensburger Urteil, die erste Meldung über das menschliche Klonen, die Rezession und die mehr als 4 Millionen Menschen ohne Arbeit, der Einsatz der Bundeswehr und der bevorstehende Euro, das sind Dinge, die bewegen.

Erwartungen an uns müssen wir wohl erst wecken. Und wir sind schlecht beraten, wenn wir das durch das Aktivieren der Mitleids- oder ‚Schlechte-Gewissen-Schiene’ tun.

Die Erwartungen, die vorherrschen, sind wohl die, dass wir uns leise und kostengünstig bzw. billig, um diejenigen kümmern, die beim allgemeinen Rennen ums goldene Kalb nur den Platz versperren und im Wege stehen.

Wir sollten uns selber fragen, was Andere vermutlich von uns erwarten. Und wir sollten sagen, was sie von uns erwarten können.

Solange wir allerdings nahezu ungebremst die finanziellen Vorgaben an die Klienten weitergeben, wird man nicht viel von uns erwarten. Oder aber man ist zufrieden mit uns, weil genau das die Erwartung an uns ist: Dass wir unseren Mund halten und uns brav wieder kuschen.

Was Gerhard Schröder gefordert hat, gilt auch für die Soziale Arbeit: Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen. Unsere Aufgabe besteht zunächst nicht darin, zu belegen, dass wir aufgestanden sind, sondern dass wir anständig sind. Dass wir als Anständige nicht sitzen bleiben können und dass sich im Aufstehen Kreativität und Visionen einstellen, davon bin ich zutiefst überzeugt.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Erich Fried: Wer will, dass die Welt bleibt, wie sie ist, der will nicht dass sie bleibt. Im Kontext des Vortrages gestellt, lautet das Zitat dann: „Wer will, dass die Behindertenhilfe bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt!“

Was wir bewahren und behalten wollen, werden wir verlieren. Was wir loslassen, wird uns bleiben. Und alles fängt im Kopf an. Nicht im dem des Vorgesetzten, dem des LWV, dem der Angehörigen oder dem der Politiker, sondern im eigenen. Ob wir wollen oder (Andere) nicht ... Je authentischer wir sind, desto mehr Visionen werden wir haben.

Vielen Dank!


Vortrag gehalten auf der Jahrestagung des Fachverbandes Evangelische Behindertenhilfe am 28.u.29.11.2001 Leitungskräften sächsischer diakonischer Einrichtungen der Behindertenhilfe.

Ich habe ihn deshalb hier eingestellt, weil er erstaunlich/erschreckend aktuell und zeitlos ist..


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