Zwischenruf April 2023:

Vom Preis des Kostens


Ja, die Überschrift klingt sperrig, bleibt so aber länger im Gedächtnis. Und das muss sie auch. Denn es ist der Einsparungsvorschlag von Herrn Yusuke Narita, der mich zu dieser Überschrift inspiriert hat. Seine Empfehlung: Senior*innen sollten durch Massenselbstmord das Sozialsystem entlasten.

Wir bekommen wieder mal vor Augen geführt: Wenn Helfen als Dienstleistung gegen Geld erbracht wird, dann gibt es ab dem Zeitpunkt, ab dem das Geld knapp wird, keine Tabus mehr. Und wir ahnen, dass der Preis der Ökonomisierung weitaus höher sein wird, als es die realen Hilfekosten sind.

Herr Yusuke Narita ist kein Leichtgewicht. Er lehrt als Wirtschaftswissenschaftler an der Yale University in Amerika und hat eine nicht unbedeutende Zahl von Menschen, die wir neudeutsch als „Follower“ bezeichnen. Und wer ihn als Spinner abtut, verkennt den Ernst der Lage.

Oder schon vergessen, dass 1998 das Unwort des Jahres Sozialverträgliches Frühableben war?

Schöpfer dieses Begriffs ist der ehemalige Bremer Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar, der in einem Interview wörtlich ausführte: „Dann müssen die Patienten mit weniger Leistung zufrieden sein, und wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann, oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen.“

Und auch die Äußerungen des ehemaligen Bundesvorsitzenden der Jungen Union, Philipp Mißfelder, sind noch in Erinnerung.

Allen Äußerungen gemein ist, dass sie das Ergebnis einer Denkweise sind, die Helfen und Kümmern als entgeltpflichtige Leistungen versteht. Nur dann, wenn Helfen Geld kostet, machen Berechnungen von Kosten und Nutzen Sinn und sind Bestandteil des buchhalterischen Einmaleins der Sozialökonomie.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Ökonomisierung des Sozialen immer auch mit ethischen Fragestellungen verbunden war. Wenn, wie in Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945, die Politik gesetzliche Vorgaben schafft, die auf einer Kosten-Nutzen-Rechnung beruhen, und sie sich hierbei noch auf medizinische und ethische Aussagen bezieht, wird die Luft für diejenigen, deren Existenzerhalt quantifizierbar ist, sehr schnell sehr dünn.

Merke: Denjenigen, die einer Gemeinschaft (zu viel?) kosten, kann das schnell ihr Leben kosten.

Da grätscht nun Herr Narita rein und empfiehlt, die Unwucht der Sozialkosten durch eine drastische Reduzierung der Zahl der Hilfeberechtigten wieder ins Lot zu bringen. Und wir lernen auch, dass es dieses Mal ohne graue Busse gehen wird. Man muss nur denjenigen, die besonders lange besonders viele Leistungen in Anspruch nehmen, nahelegen, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und ihnen „empfehlen“, sich selber umzubringen.

Niemanden zur Last fallen, schon gar nicht den eigenen Verwandten. Da formt das ökonomische Denken doch ein fragwürdiges Selbstbild und irgendwann schämt man sich, dass man noch da ist -und immer noch kostet.

Es ist kaum auszuhalten, wie eindimensional über die Zukunftssicherung des Helfens und Kümmerns gedacht wird. Zukunft kann das Soziale nur haben, wenn es nicht (mehr) der Marktlogik unterliegt. Die Aufgabe heißt: Entökonomisiert das Helfen und Kümmern!

Wieso soll dieser sperrig daherkommende Gedanke einer Entökonomisierung weniger Chancen haben, als die menschenverachtende Empfehlung des Herrn Narita, die ja im Kern nichts anderes als die Zwangsläufigkeit kapitalistischen Denkens ist?

Nach einer Studie des Pestel-Instituts fehlen in Deutschland etwa 2,2 Millionen barrierearme und altersgerechte Wohnungen. Super, oder?

Statt aber „Wohnen als Grundrecht“ gesetzlich festzuschreiben, oder beim Bau von Wohnungen die verpflichtende Anwendung von Sozialstandards zu fordern, geht es weiter in die tradierte Richtung.

Nach uns die Sintflut und vor uns der empfohlene kollektive Suizid.

Es muss weiter als bis zur nächsten Pflegesatzverhandlung gedacht werden. Und auch das Investieren in Sozialimmobilien ist nicht wirklich der Knaller. Da muss man schon mal laut „NEIN!“ sagen und denen widersprechen, die zu den Profiteuren der Vermarktwirtschaftlichung des Sozialen gehören.

Wir alle müssen wieder "Sozial" können, statt dass eine Minderheit daran verdient, dass wir es mittlerweile nicht (mehr!) können.

Den Ausstieg aus der Kernenergie haben wir gestemmt bekommen, dann wuppen wir den Ausstieg aus der Marktlogik des Sozialen auch. Ja, es ist herausfordernd, das Soziale neu zu denken, aber eine wirkliche Alternative, es sei denn, wir verabreden uns für den 29. Februar irgendwo in der Pampa zum gemeinsamen Suizid, haben wir nicht. Weiter so geht keinesfalls weiter so.

Niemand käme auf die Idee, Häuser nur für Kinder zu bauen: Grell, bunt und mit niedrigen Fenstern, Türen und Decken und dann, wenn die Kinder von einst groß sind, sie in ein Heim zu verfrachten, weil ja ihre „Kinderwohnungen“ mittlerweile ungeeignet sind.

Das haben wir uns aufgehoben und holen es dann später nach, wenn sie, die großen Kinder, fest verwurzelt, selbst Kinder und Enkelkinder habend, irgendwann Probleme mit der Beweglichkeit bekommen. Dann geht es ab in die zertifizierte Sonderwelt, in der schon die gut ausgebildeten Fachkräfte aus Deutsch- und anderen Ländern warten.

Wieso aber baut man überhaupt noch Häuser, die ihre Bewohner*innen nur temporär nutzen können? Es entspricht der Marktlogik, sich auf das zu fokussieren, was den größten Profit verspricht. Das mag bei der Produktion von Konsumgütern und Waren ja noch irgendwie nachvollziehbar sein, hat jedoch im Sozialbereich nichts verloren.

Erinnert sei auch an die Diskussion um Patente für Arzneimittel. Hier stehen sich Ethik und Profit als das gegenüber, was sie sind: unvereinbar.

Fachleute aus dem Bereich der Teilhabe für Menschen mit Behinderungen dürften ziemlich schnell bei den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) fündig werden. Sie gehören abgeschafft, weil sie Menschen mit bestimmten Merkmalen ausgrenzen und dem Recht auf inklusive Teilhabe im Wege stehen. Dass sie bisher noch nicht verschwunden sind, hat mit Marktlogik zu tun, nicht aber mit Fachlichkeit.

Auch die Senior*innen, die bis vor einigen Wochen noch Dienstleistungen des Paul Gerhardt Stift in Berlin-Wedding in Anspruch nahmen und denen der Heimplatz gekündigt wurde, weil geflüchtete Menschen aufgenommen werden, wissen, welchen Schaden betriebswirtschaftliches Denken im Sozialbereich anrichten kann. Wenn man das Thema ein wenig verfolgt, dann wundert es nicht, dass die Einen so und die Anderen so sagen. Wie dem auch sei: So funktioniert Marktlogik, nicht aber Nächstenliebe.

Und auch der freundliche Caritas-Heimbetreiber, der Bewohner*innen die staatliche Energiehilfe abschwatzte, befindet sich in betriebswirtschaftlicher Hinsicht auf der Höhe seiner Zeit.

Selbstverständlich entspricht es auch der Marktlogik, dass Heime, die sich nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen, geschlossen werden. Die Pleiten in diesem Bereich sprechen eine deutliche Sprache und sind alles andere als lustig.

Da brauchen Menschen unsere Zuwendung, aber es kostet halt so viel, dass wir die Heime lieber gleich schließen. Entweder Porsche oder zu Fuß. Und, wenn es Spitz auf Knopf kommt, kann man ja immer noch Herrn Narita von der Yale University aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zitieren.

Es zeichnet sich ab, dass es nicht gelingen wird, humane Lösungen für die Aufgaben zu finden, die der Sozialbereich an uns als Gemeinschaft stellt, wenn wir die gleiche Art des Denkens anwenden, die uns die Probleme erst beschert hat.

Was wir sehen, ist das Ergebnis ökonomisierter Nächstenliebe. Solange das Soziale in der Ökonomisierungsfalle steckt, kann es sich nicht neu erfinden. Es folgt vielmehr seiner Logik und produziert ein kaltes und unbarmherziges Miteinander, das seine Fratze in dem Maße zeigt, wie Geld für Nächstenliebe zur Verfügung steht oder nicht.

Soziale Dienstleistungen begründen sich aber gerade nicht aus dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, sondern aus sich selbst heraus. Und Soziales Engagement kann, wenn man wollen will, auch anders als in klingender Münze abgegolten werden.

Gefragt sind Ideen derjenigen, die um die Herausforderungen zur Sicherung des Sozialen wissen, sich aber lieber kritischem Denken verweigern, weil es ihnen unpopulär erscheint oder ihnen geschäfts-, vereins- oder verbandsschädigend vorkommt, wenn sie sich mit ihrer eigenen Meinung aus der Deckung wagen.

Von denen aber, die zwei Meinungen haben, haben wir genug. Und nicht zuletzt, damit die Zahl derjenigen, die sich montags zum Spaziergang verabreden, nicht größer wird, als die Zahl derer, die sich sonntags treffen, sollten die Kirchen mutig zum längst überfälligen Sprung über ihren kontinuierlich länger werdenden Schatten ansetzen.

Viel Zeit bleibt nicht. Ansonsten müssten wir dann doch schon mal schauen, für wann und wo wir uns verabreden, um der Empfehlung des freundlichen Yale-Professors möglichst geräuschlos nachzukommen. Einen Kalender brauchen wir dafür nicht. Eine einfache Kosten-Nutzen-Kalkulation genügt. Und wenn wir mehr kosten als nutzen, wird es Zeit.

Das ist der Preis des Kostens.


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