Kolumnen

Triage: Denn sie wissen (nicht), was sie tun!



Da ist sie plötzlich wieder, diese unwürdige Diskussion um die Selektion von Menschen-Leben, von der wir uns nicht vorstellen konnten, dass sie nach `45 in Deutschland jemals wieder Befürworter haben würde.

Ausgelöst durch die aktuelle Pandemie, hat die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am 25. März 2020 klinisch-ethische Empfehlungen unter dem Titel „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ verabschiedet und veröffentlicht.

Weil es „erschütternd gewesen (sei) zu sehen, unter welchem Druck Kollegen in Italien und Frankreich bereits Entscheidungen dieses Ausmaßes fällen mussten, ohne irgendeine Orientierung zu haben“, habe man diese Handlungsempfehlung als "Entscheidungsunterstützung“ erstellt und verabschiedet, so ist auf der Homepage der DIVI zu erfahren.

Ja, da ist sie also wieder, diese unwürdige Diskussion um Selektion von Menschen-Leben, die hier nicht Selektion, sondern „Priorisierung“ genannt wird.

Damit überforderte Mediziner*innen vor lauter Stress nicht den Falschen helfen, denn immerhin gibt es ja zu wenig medizinisches Gerät für zu viele Bedürftige, sind im Jahre 75 Jahre nach Auschwitz Mediziner*innen auf die Idee gekommen, ihren Kolleg*innen aus dieser Verlegenheit, die „erschütternd“ ist, anzusehen, zu helfen.

Die „Entscheidungsunterstützung“ besteht im Kern darin, den individuellen Befund eines jeden Bedürftigen einer von 1 bis 9 reichenden Gebrechlichkeitsskala zuzuordnen, um dann „prioritär“ denjenigen zu helfen, die am wenigsten krank sind bzw. besonders gute Chancen auf Genesung haben.

Der Grundgedanke, bei Ressourcenknappheit vorrangig demjenigen zu helfen, der am wenigsten Hilfe benötigt, steht der Empfehlung von Klaus Dörner diametral gegenüber: „Handle in deinem Verantwortungsbereich so, dass du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen immer beim jeweils Letzten beginnst, wo es sich am wenigsten lohnt“. Wo kämen wir hin, wenn wir diesen „kategorischen Imperativ“ aufweichen und aufgeben würden? Diesem Satz dürften die Autoren besagter Entscheidungsunterstützung während des Studiums in mindestens einem ihrer Lehrbücher begegnet sein.

Wenn man sich den Hintergrund des umstrittenen Papiers der DIVI genauer anschaut, dann fällt auf, dass hier zwei Ebenen vermischt wurden.

Ressourcenknappheit ist ein quantitatives Problem, das auch nur quantitativ gelöst werden kann. Wenn Geräte fehlen, fehlen Geräte. Und solange diese fehlen, wird aus einem quantitativen ein qualitatives Problem.

Es geht jedoch nicht darum, Ärzten zu helfen, wie sie mit dem Gerätemangel klarkommen, sondern es geht darum, Patient*innen helfen zu können. Dies ist nur durch die Bereitstellung benötigter Ressourcen wirklich möglich.

Durch eine (bewusst gesteuerte…) Verknappung von Ressourcen wird es immer möglich sein, sich derer zu entledigen, die viel kosten und die man, warum auch immer, nicht (mehr) haben will.

Wir haben in der Geschichte doch schon einmal erlebt, wie schnell es sein kann, dass sich Dinge verschieben und dass es nicht viel braucht, um Leben in „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ einzuteilen. Wir haben daraus gelernt, dass wir für unser Zusammenleben Tabus brauchen. Es geht nicht ohne rote Linien. Alles, was danach kommt, bedroht uns alle gleichermaßen.

Der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Theophil Wurm, der sich schriftlich über die Euthanasie beim Reichsinnenminister Frick beschwerte, beschreibt in seinem Brief die Folge des Überschreitens dieser Rote als eine "schiefe Ebene", auf der es dann kein Halten mehr gibt“, weil ja alles erlaubt sei.

Natürlich muss ein Feuerwehmann, wenn er nacheinander fünf Personen mit der Drehleiter vom Dach eines brennenden Hauses holt, entscheiden, wen es als erstes mitnimmt und wer noch länger warten muss und dabei u.U. sein Leben verlieren kann. Das hat es immer schon gegeben und wird es auch weiterhin geben.

Neu ist, dass ihm nun eine Entscheidungsempfehlung an die Hand gegeben ist, wonach sich die Reihenfolge, in der die Personen zu retten sind, aus der gesundheitlichen Verfassung der einzelnen fünf Personen ableitet und bestimmen lässt: Derjenige, bei dem es sich am ehesten lohnt, der ist auch der erste auf der Drehleiter und derjenige mit der ungünstigsten Prognose kann warten.

So verständlich die Wünsche auch sind, ihm in dieser Frage Beistand und Entlastung zu ermöglichen, weil es „erschütternd“ ist, mit anzusehen, unter welchem Druck er steht, dürfte deutlich sein, dass dies eine unauflösbare Situation ist und auch zu bleiben hat. Auch (und gerade…) in unserer aufgeklärten neoliberalen Gesellschaft kommen wir nicht ohne Tabus aus.

Wenn der Preis, dem Feuerwehrmann abends wieder einen ruhigen Schlaf zu ermöglichen, darin besteht, dass wir es zulassen, dass Leben gegen Leben aufgerechnet wird, dann ist es gesellschaftlich das kleinere Übel, dem Feuerwehrmann Beistand und Entlastung zu geben, wenn er vor Gewissensbissen keinen Schlaf finden kann und ihm eine solche Handlungsempfehlung zu verwehren.

Wie kann der Feuerwehrmann denken, dass es möglich ist, Leben unterschiedlich zu wichten? Und wenn er eine Selektionsskala hat, wieso nicht auch die Leute von „Sea-Watch“, die Sanitäter und das medizinische Personal in Hospizen und Wachkomastationen? Es gibt schließlich immer wieder Situationen, in denen Helfer über unzureichende Ressourcen verfügen.

Ist ein 40 jähriger Kettenraucher, der mit Haftbefehl gesucht wird, einem 80 Jährigen vorzuziehen, der noch topfit ist? Der nächste Schritt auf dieser „schiefen Ebene“ könnte dann ein implantierter Chip sein, der dem Feuerwehrmann schon unten auf der Straße sagt, wer oben auf dem Dach steht, wer welche Erkrankungen hat und in welcher Reihenfolge man sich bitteschön oben auf dem Dach aufzustellen hat. Und unter Umständen lohnt es sich für ihn gar nicht, anzuhalten, weil zwei Straßen weiter eine Kita in Flammen steht und er allein im Auto sitzt.

Wie ist es eigentlich, wenn am Tag xy endlich ein Medikament gefunden sein wird? Braucht Deutschland dann auch 80 Millionen Tabletten, oder reichen nicht vielleicht auch schon 50 Millionen, weil die anderen 30 Millionen auf der Gebrechlichkeitsskala so weit hinten stehen, dass die Kosten volkswirtschaftlich nicht zu verantworten sind, weil die Krise ja ohnehin schonzur Rezession geführt hat? Erschütternd, den Druck der Politiker mit ansehen zu müssen…

So nachvollziehbar die Nöte derer sind, die ihren eigenen Ansprüchen und ihrem beruflichen Ethos nicht genügen können, weil sie unzureichende Ressourcen zur Verfügung haben, so falsch ist es, den Ausweg darin zu sehen, den Druck an diejenigen weiter zu geben, die sich am wenigsten wehren können.

Apropos: Was ist eigentlich dem Kapitän zu raten, dessen Schiff sinkt und der von 10 Passagieren nur für vier von ihnen Platz im Rettungsboot hat? Sollen die zuerst ins Boot, die fit sind und gut schwimmen können, oder die, die gebrechlich und Nichtschwimmer sind? Alles eine Frage der Priorisierung...

Die Autor*innen der „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ haben einen Weg beschritten, der sowohl aus prinzipiellen Erwägungen als auch aus der geschichtlichen Verantwortung heraus komplett abzulehnen ist. Hier wurde die rote Linie überschritten und dadurch ist eine schiefe Eben entstanden, auf der es dann für uns alle kein Halten geben wird.


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