Kolumnen
"Too big to fail!“ -oder: Warum seit Jahren in der deutschen Behindertenhilfe alles anders bleibt
Das Phänomen, dass Dienstleister, die zu groß und zu mächtig geworden sind, ab irgendwann nicht ohne Weiteres Pleite gehen dürfen, weil ihre Schließung einen enormen Schaden anrichten würde, der weit über den eigentlichen Konkurs hinausgehen würde, kennen wir aus dem Bereich des Bankenwesens seit mehr als hundert Jahren.
Damals entstand der Begriff „Too big to fail“, was so viel wie „Zu groß zum Scheitern“ bedeutet und es setzte sich die Erkenntnis fest, dass es Dinge (Dienstleister, Akteure, Strukturen,…) gibt, die so groß sind, und an denen so viel dranhängt, dass sie nicht scheitern dürfen, weil dies weitaus größere Folgeschäden für das gesamte System bedeuten würde.
Was das mit der „Behindertenhilfe“ zu tun hat? Nun, spätestens beim Durchblättern des Entwurfes des Koalitionsvertrages, der am 07. Februar 2018 das Licht der Welt erblicken durfte, fällt auf, dass es im Bereich der Behindertenhilfe, die ja seit geraumer Zeit als „Teilhabe für Menschen mit Behinderungen“ daherkommt, kein politisches Interesse an klaren strukturellen Veränderungen gibt.
So will man sich künftig „im Mobilitätsbereich an der UN-Behindertenrechtskonvention orientieren“, meinen die Koalitionäre von sich, dass sie mit dem BTHG einen „wichtigen Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention“ getan hätten und nun wollen sie „die Werkstätten für behinderte Menschen unterstützen, ihr Profil entsprechend neuer Anforderungen weiterzuentwickeln und dem Wunsch der Menschen mit Behinderungen nach Selbstbestimmung Rechnung zu tragen“.
Spätestens jetzt muss man an die frische Luft und weiß nicht, ob man glauben soll, was man da gerade gelesen hat. Und es bleibt eigentlich nur eine Erklärung: Die Strukturen der deutschen Behindertenhilfe sind über die Jahrzehnte so manifest und so mächtig geworden, dass man, selbst wenn man dies wollte, sie nicht ohne weiteres umbauen kann. Sie sind zu groß zum Scheitern.
"Too big to fail" hat den Sozialsektor erreicht.
Hier ist es, neben der Pflege, insbesondere die (stationäre) Behindertenhilfe, die nicht anders sein darf, weil alles darauf zugeschnitten ist und weil der Politik schlichtweg Mut und Phantasie fehlen.
So zeigt die Vorgabe im BTHG, dass Hilfebedarfsgruppen zu bilden sind, dass Politik und Verwaltung die Personenzentrierung weder denken noch strukturell realisieren können. Die Politik will nicht so viele individuelle Kostensätze, wie es Leistungsberechtigte gibt. Sie will auch nicht so viele individuelle Privatadressen und Einzelverträge. Sie will sich im Mobilitätsbereich an der UN-BRK „orientieren“ und Werkstätten unterstützen, sich weiterzuentwickeln. Wie aber, und wohin, bitteschön, sollen sich Sonderwelten „weiterentwickeln“?
"Too big to fail!" Die Ausgaben für die vielen hundert Wohnheime in Deutschland müssen richtig investiert gewesen sein und die hunderte Millionen Euro, die in den letzten 40 Jahren in die Wohn- und Werkstätten geflossen sind, müssen langfristig gut angelegtes Geld sein. Alles andere wäre Scheitern – und das darf nicht sein.
Das erklärt auch, warum im Osten noch massiv in die stationäre Behindertenhilfe investiert wurde, während im Westen bereits fachliche Konzepte zur Konversion von Komplexeinrichtungen realisiert wurden.
Lieber bleibt alles anders. Wer jedoch denkt, dass eine menschenrechtliche(re) Ausgestaltung der Teilhabe einem Scheitern gleichkommt, hat ein erbärmliches berufliches Selbstverständnis. Es geht nicht darum, die Behindertenhilfe durchzuorganisieren, sondern darum, Teilhabe so bunt und so vielfältig zu ermöglichen, wie das Leben ist.
Das gelingt der Politik nur, wenn sie die Frage zulässt, wie Teilhabe eigentlich organisiert und gesetzlich flankiert sein müsste, dass sie qualitativ so ist, dass es für ihre Vertreter vorstellbar ist, diese Hilfen selbst einmal in Anspruch zu nehmen.
Durch diesen Koalitionsvertrag wird wieder alles anders bleiben. Während Deutschland wegen der Überschreitung von Feinstaubgrenzwerten mit einer Klage und saftigen Bußgeldern zu rechnen hat, und aus lauter Verzweiflung darüber nachdenkt, den ÖPNV kostenfrei zu machen, fehlt im Sozialen ein entsprechendes internationales Sanktionsmittel.
Folglich ist die Lücke zwischen Reden und Tun hier auch besonders groß. Seit 2009 ist klar, dass die Umsetzung der UN-BRK nicht ohne ein klares Umschwenken zu realisieren sein würde. Genauso wenig wie ein Eimer roter Farbe aus einem Taxi ein Feuerwehrauto macht, genauso wenig macht das Unterzeichnen der UN-BRK aus Sonderwelten niedliche Inklusions- und Teilhabeinseln.
Damit sich etwas ändern kann, muss sich mehr ändern. Aber da bieten Kräfte dem Verstand die Stirn, die partout keine (fundamentale) Veränderung wollen, weil sie dies als (persönliches) Scheitern, bzw. als Versagen der (öffentlichen) Verwaltung ansehen.
So nimmt es auch nicht wirklich Wunder, dass die Forderungen nach Restlaufzeiten für Sonderwelten nicht aus der Politik kommen, und dass die Forderung zum Einsetzen einer Untersuchungskommission des Heimwesens ebenfalls nicht aus der Politik kommt. Ach, und das "Normalisierungsprinzip" ist auch keine politische Erfindung. Es lässt sich schnell eine lange Liste zusammenschreiben, die noch deutlich länger würde, wenn man in die Geschichte ginge und die politischen Paradigmen aus den beiden letzten deutschen Diktaturen hinzuzählte.
Menschenrechtliche Erfolgsgeschichten sehen jedenfalls anders aus.
Sie, die Politik, hat Angst vor Veränderungen und scheut das Eingeständnis, dass ihre bisherige Behindertenpolitik keine Zukunft hat. Aber ohne dieses Eingeständnis wird es keine wirklichen Veränderungen geben. Dafür braucht es mehr als die mickerigen Aussagen im Koalitionsvertrag, die ein Indiz dafür sind, dass die Strukturen der deutschen Behindertenhilfe schon seit Jahren „Too big to fail“ sind.
Zurück zur Übersicht der Kolumnen