Zwischenruf November 2023
STOP! - Keine lebensverlängernde Maßnahmen für Heime mehr!
Ja, Eingeweihte, die „Heim“ gut kennen, wissen, dass sich der Patient schon seit Jahren in einem sehr kritischen Gesundheitszustand befindet, den Fachleute gern mit dem blumigen Begriff „Sonderwelt“ eher um- als beschrieben. Doch so ernst, wie seit den letzten zwei Jahren, hat es um Heim wohl noch nie gestanden.
Als Heim in den 80er Jahren an Deinstitutionalisierung und Ambulantisierung erkrankte, griffen seine Befürworter zu einer ungewöhnlichen Methode: Sie verringerten die Zahl der großen Anstalten und erhöhten dadurch parallel die Gesamtzahl kleiner dezentral errichteter Heime. Dieser Prozess wurde von ihnen verschleiernd als „Konversion von Komplexeinrichtungen“ bezeichnet und nicht wenige ließen sich diese Therapieform durch Mittel ihrer eigenen Anstaltsapotheke fördern, die in Wirklichkeit „Aktion Mensch“ heißt. Der Deal: Man war die marode Bausubstanz der großen Anstalten los, wirkte innovativ und fortschrittlich und kolportierte, Heim damit einen Gefallen getan zu haben, wenn man seine Kapazität verringern und seine Anzahl aber vervielfachen würde.
Noch nicht wieder voll genesen, erkrankte Heim eines Tages an Inklusion. Ein auch in Deutschland geltendes Übereinkommen der UN, im fernen New-York verabschiedet, sorgte erneut für Unruhe und allerhand hektische Aktivitäten. Schnell war der Begriff “Inklusion“ als Wurzel allen Übels und als gefährlicher Erreger identifiziert, der die nun kleinen dezentral errichteten „Ersatzneubauten“ komplett bedrohen würde. Man versuchte es zunächst mit Umetikettieren und pushte den Begriff „Integration“, in der Hoffnung, dass dies Heim gegen Inklusion resistent machen würde.
Als das offensichtlich nicht half, traten engagierte Zeitgenossen die Flucht nach vorn an: Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen formulierte, dass erst Werkstätten für behinderte Menschen den deutschen Arbeitsmarkt inklusiv machten, es wurden inklusive Kochbücher gedruckt und medizinische Versorgungszentren, in denen verschiedene Fachärzt*innen ausschließlich Menschen mit Behinderungen als Patient*innen behandeln, nannten sich fortan „Inklusives medizinisches Versorgungszentrum“. Was tut man nicht alles, wenn man verzweifelt ist.
Da allerdings mit dem Auftreten von Inklusion der Patient Heim von einem internationalen Ärzteteam auch regelmäßig untersucht wird, stehen die Chancen für einen fachlich eindeutigen Befund und eine erfolgreiche Therapie recht gut.
Einen weiteren schweren Schlag musste „Heim“ einstecken, als sich herausstellte, dass es gegen die im Bundesteilhabegesetz (BTHG) propagierte „Teilhabe“ keine wirklichen Antikörper hat und dass der durch den Befall mit Inklusion geschwächte Organismus von Heim wohl kaum in der Lage sein wird, auch noch mit Teilhabe fertig zu werden.
Als im Jahr 2021 vier Menschen mit Behinderungen in einem Heim der Diakonie ermordet wurden, hat sich eine weitere Diagnose hinzugesellt, die nach Experteneinschätzung final sein dürfte: „Gewalt“. Fachleite wissen schon viele Jahrzehnte, dass Gewalt zum Wesen der „Struktur Heim“ gehört und ihm immanent ist. Ein Heim, in dem es keine Gewalt gibt, ist kein Heim mehr.
Zwei Monate nach der Bluttat, im Juni 2021, wird im SGB IX ein neuer Paragraf (§37a „Gewaltschutz“) eingefügt, der Heim noch einmal auf die Beine helfen soll:
„(1) Die Leistungserbringer treffen geeignete Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen, insbesondere für Frauen und Kinder mit Behinderung und von Behinderung bedrohte Frauen und Kinder. Zu den geeigneten Maßnahmen nach Satz 1 gehören insbesondere die Entwicklung und Umsetzung eines auf die Einrichtung oder Dienstleistungen zugeschnittenen Gewaltschutzkonzepts.
(2) Die Rehabilitationsträger und die Integrationsämter wirken bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben darauf hin, dass der Schutzauftrag nach Absatz 1 von den Leistungserbringern umgesetzt wird.“
Im Zuge der Recherche zu den Morden in Potsdam fragt „DIE ZEIT“ beim Bundeskriminalamt nach und erfährt, dass die Zahl der dem BKA bekannten Fälle von aktenkundig gewordener Gewalt an Menschen mit Behinderungen bei jährlich über 500 liegt.
Im Juli 2021 beginnt die Redaktion von Ableismustötet zu Gewaltfällen zu recherchieren, die seit 2010 in Heimen aufgetreten sind. Die dort aufgelisteten Fälle sind ernüchternd , beschämend und deprimierend zugleich.
Im November 2021 wird eine empirische Studie zu Gewaltschutzstrukturen für Menschen mit Behinderungen vorgelegt, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales von August 2020 bis Juli 2021 durchgeführt wurde. Dort heißt es u.a.:
„Nach wie vor existieren aber auch Problemfelder und Lücken im Gewaltschutz. Dies macht sich unter anderem bemerkbar im vielbenannten Personalmangel, der einen wirksamen Gewaltschutz in Einrichtungen verhindert. Ausbaufähig sind zudem Qualifizierungsmaßnahmen zur umfassenden Gewaltsensibilisierung des Fachpersonals und der Leitungskräfte. Noch immer problematisch sind in vielen Einrichtungen das eingeschränkte Mitbestimmungsrecht der Bewohnerinnen und Bewohner bzw. Werkstattbeschäftigen und die weiterhin unzureichende Achtung der Privat- und Intimsphäre.“
Und ziemlich genau ein halbes Jahr später, im Mai 2022, veröffentlichen das Deutsche Institut für Menschenrechte und der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung, ein Papier mit der Überschrift: „Schutz vor Gewalt in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen – Handlungsempfehlungen für Politik und Praxis“ . Hier ist u.a. zu lesen:
„Auch 13 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention leben und arbeiten in Deutschland noch sehr viele Menschen mit Behinderungen in Sonderstrukturen. Ein nachhaltiger Strukturwandel, wie ihn die UN-Behindertenrechtskonvention vorgibt, steht noch aus. In den letzten Jahren zeigt sich immer wieder, dass in Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen ungleiche Machtverhältnisse und gewaltfördernde Strukturen bestehen. Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ist Deutschland zu einem schrittweisen Abbau von Sondereinrichtungen menschenrechtlich verpflichtet. Die Zielrichtung liegt darin, stationäre Wohnformen zugunsten ambulanter Unterstützungsangebote abzubauen. (...) Des Weiteren ist ein inklusiver Arbeitsmarkt für alle Menschen zu schaffen (Art. 19 und 27 UN-BRK). Solange Sondereinrichtungen fortbestehen, ist in ihnen der Schutz der Menschenrechte behinderter Menschen sicherzustellen. Hierzu besteht eine grund- und menschenrechtliche Verpflichtung.“
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet am 26.05.2022 : Auszug:
„Britta Schlegel vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR) verwies auf „gewaltfördernde Strukturen“ in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. So gebe es dort in der Regel nur wenig Selbstbestimmung, kaum Intimsphäre, große Abhängigkeitsverhältnisse und geringes Wissen über eigene Rechte. Zudem werde Gewalt eher hingenommen. Unter Verweis auf eine Studie aus dem Jahr 2014 sagte sie, demnach hätten 51 Prozent der Frauen in Behinderteneinrichtungen Gewalterfahrungen gemacht, darunter Einschüchterungen, Beleidigungen und Demütigungen. 17 Prozent berichteten über körperliche Gewalt, 20 Prozent der Frauen über sexualisierte Gewalt von Nötigungen bis zu Vergewaltigungen, so Schlegel.“
Und, beginnend im Jahr 2021, führt das Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg (IfeS) im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bis 2024 eine Studie zu „Gewalt gegen Frauen und Männer mit Behinderungen in Einrichtungen“ durch.
Dabei ist Gewalt kein neuer Erreger und spätestens mit der Veröffentlichung seines vor 50 Jahren auf Deutsch veröffentlichen Buches „Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ hat Erving Goffman auf Gewalt in Institutionen und durch Institutionen hingewiesen.
Einige erinnern sich sicher noch an den TV-Bericht “Team Wallraff – Reporter undercover” vom Frühjahr 2017 über Gewalt in Einrichtungen eines Trägers aus Leverkusen, der juristische Konsequenzen nach sich zog.
Aufgeschreckt durch den medialen Rummel, haben die Akteure nun ihre Anstrengungen, dem schwer angeschlagenen Heim wieder neues Leben einzuhauchen, intensiviert. Ihr empfohlenes Gegenmittel: Gewaltprävention.
Nun stelle man sich vor: Heimbetreiber, die sich oftmals auf ethische Werte, biblische Personen und christliche Tugenden berufen, und in ihrem historischen Rucksack teilweise auch die Jahre der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ mit sich herumtragen, müssen Gewaltschutzkonzepte erarbeiten und diese den Behörden vorlegen, während bereits diskutiert wird, wie und von wem der Gewaltschutz in den Einrichtungen zu überwachen sei.
Um des lieben Heimes willen, gehen also jetzt die Bonhoeffer-, Kolping-, Luther- und Gute-Hirtenbemüher*innen, mit ihren noch druckfrischen Gewaltpräventionskonzepten auf Kundenakquise. Gewaltschutz als Wettbewerbsvorteil. Das hat schon fast wieder was…
Wer dem an Deinstitutionalisierung, Ambulantisierung, Inklusion, Teilhabe und Gewalt erkrankten "Patienten Heim“ zur Stabilisierung Gewaltschutzkonzepte verordnet, verlängert sein Leiden. Denn: Heime sind ohne struktureller Gewalt nicht zu betreiben. Und dass die Grenze hin zur „totalen Institution“ oftmals fließend ist, belegt die (Heim-) Geschichte.
Wer an Heim festhält, reitet ein totes Pferd. Denn mit ihm, dem Heim, sind die Paradigmen moderner menschenrechtlich basierter Behindertenhilfe nicht realisierbar. Punkt und basta.
Heime sind, das lässt sich lakonisch und im doppelten Sinne des Wortes feststellen, eine Sache der Einstellung! Die Forderung kann deshalb nur lauten: STOP! – Keine lebensverlängernde Maßnahmen für Heime mehr!