Kolumnen

Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben -oder: Vom Unsinn der Zukunftsplanung


Jetzt geht es bald los, dass die netten Damen und Herren, beflügelt durch das im gedimmten „Licht der UN-BRK“ geschriebene Bundesteilhabegesetz (BTHG), landauf und landab bei Menschen mit Behinderungen vorstellig werden, um zu erfragen, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Das Zauberwort lautet: „Zukunfts-“ bzw. „Teilhabeplanung“.

Da werden die Leistungsberechtigten gebeten bis genötigt, ihre Erwartungen, Ziele und Wünsche, bezogen auf die einzelnen Teilhabebereiche, fremden Menschen darzulegen, während diese so tun, als könne man Zukunft „planen“ und als sei das zentrale Merkmal einer Behinderung dieses, dass ein Mensch mit Behinderungen Unterstützung dabei braucht, Ziele für sein Leben zu formulieren.

Aber: Kann man „Zukunft“ überhaupt planen und ist man als Bezieher von Teilhabeleistungen verpflichtet, seine eigenen Zukunftspläne zu kommunizieren und sich hinterher am Grad der Erfüllung dieser Pläne messen und sogar ökonomisch bewerten zu lassen? Wohl kaum.

„Zukunft“ ist nicht planbar. Noch nicht mal für fünf Jahre. Dass das so ist, werden diejenigen, die bis ‘89 irgendwo zwischen Ostsee und Erzgebirge gewohnt haben, gern bestätigen.

Ja, und wie viele Lehrer, Kita-Plätze, Pflegekräfte, Erzieher, Krankenhausbetten und Pflegeheimplätze brauchen wir eigentlich? Wer hat denn da geplant, Herrschaften, noch mal?!

Und auch Egon Olsen, der Kopf der „Olsen-Bande“, der sicher nicht ohne Grund im Land der Planwirtschaft besonders viele Fans hatte, ist nicht an seinen Plänen gescheitert, sondern an fehlenden Kompetenzen, auf die Wirklichkeit zu reagieren, wenn sie sich nicht in Übereinstimmung mit dem Plan befand.

Leben ist eben das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben.

Und da sitzen sie also nun in der „besonderen Wohnform“ im Zimmer von Herrn Max Mustermann, der künftig, selbst und doch nicht selbstbestimmt, Mieter in der Sonderwelt sein wird, und werden sich detailliert darlegen lassen, ob und wie er seine Zukunft geplant hat.

Brav muss er fremden Leuten, die mit fremdem Geld bezahlen, erklären, wie und mit wem er wohnen, wo und was er arbeiten möchte und was er in seiner Freizeit unternimmt. Er wird gefragt, wie es mit dem Aufstehen, der Hygiene und der Hauswirtschaft so klappt und was er noch so alles können wollen will.

Am Ende wird alles brav quantifiziert und von den netten Damen und Herren in irgendetwas (Zeit, Geld, Personalanteile, Punkte, Qualifikation…) umgerechnet und dann wird alsbald, versehen mit der Datenschutzentbindung, der Heimweg angetreten.

Wenn das nicht unanständig aufdringlich und neoliberaler Humbug ist, was ist es dann?

Die Voraussetzung für ein gelingendes Leben wird doch nicht durch einen Plan über die eigene Zukunft garantiert, sondern dadurch, dass man gelernt hat, situativ zu reagieren und Wege (= sich selbst) auszuprobieren.

Was ist, wenn plötzlich Krankheit dazwischenkommt, die coole Erzieherin gekündigt hat und die WfbM nur noch Arbeiten hat, die zu komplex sind? Was ist, wenn die Freundin plötzlich einen Anderen hat und die Idee mit der Außenwohngruppe nicht hinhaut, weil der Vermieter dann kurz vor knapp doch keine Mieter haben will, die behindert sind? Was ist, wenn man plötzlich an der Bushaltestelle jeden Morgen dumm angemacht wird oder wenn die eigenen Eltern alt und pflegebedürftig werden? Ja, und was ist, wenn der Wind plötzlich aus einer politischen Ecke zu wehen beginnt, die schlimmste Erfahrungen aktualisiert?

Menschen leben nicht „ziellos“ nur weil keine schriftlichen Aufzeichnungen über ihre Vorhaben, Pläne und Absichten an- und ausgefertigt wurden.

Pädagogische Arbeit ist Beziehungsarbeit, die nun durch das Aufstellen eines Planes ersetzt werden soll: Formular raus, Ankreuzen, Ausfüllen, Unterschrift drunter, dann noch schnell in die Excel-Tabelle eintragen, was der Zukunftsplan in Euro kostet, noch einen Termin zum Gespräch über den Grad der Zielerreichung vereinbaren und dann ab. Das war’s.

Das ist relativ sinnneutral, verursacht aber bei denen, die sich mit ihren eigenen Plänen nicht offenbaren mussten, offensichtlich ein gutes Gefühl.

Verwaltung meint, das Recht zu haben, wissen zu dürfen, was für persönliche Ziele ein Leistungsberechtigter hat und legt fest, ob es Sinn macht, die Person bei der Erreichung dieser Ziele (finanziell) zu unterstützen. Das klingt nicht direkt nach „Disziplinierung“, trägt aber unverkennbar den Geruch.

Über die eigene Zukunft nachzudenken, setzt die Fähigkeit zur Selbstreflektion und zum abstrakten Denken voraus. Beides ist in der Regel bei kognitiv beeinträchtigten Menschen nicht sehr ausgeprägt vorfindbar. Es braucht andere Zugänge, als den einer Befragung durch Fremde.

Weil das aber weder zum Selbstverständnis von Verwaltung passt, noch Verwaltungen überhaupt so aufgebaut sind, dass sie dies adäquat bedienen könnten, greift man gleichermaßen takt- und hilflos, auf die Methode von (Aus-)Fragebögen und Klientengespräch zurück.

Verwirkt jemand den Anspruch auf Teilhabeleistungen, wenn er seine Ziele und Planungen für sich behält, oder wenn sich nach einer gewissen Zeit herausstellen sollte, dass die Ziele von einst -warum auch immer- nicht erreicht wurden? Und die, die keine Ziele artikulieren können, wie sieht es bei denen aus?

Profis, die vor einigen Dekaden ihre Ausbildung gemacht haben, wissen, dass Pädagogik in ihrem Kern nichts als Beziehungsarbeit ist und selbst den Schicki-Micki Gesundheitsökonom*innen und Verwaltungsfachwirt*innen dürfte (nach Feierabend…) dämmern, dass sie sich auf ziemlich dünnem Eis bewegen. Manchmal hilft eben der Blick ins eigene Leben mehr als in ein Lehrbuch oder in einen schlauen ICF-gespickten Fragebogen, auch wenn das anstrengender ist, als das sture Auswendiglernen von Items.

Leben ist das, was trotz der Zukunfts-/ Teilhabesplanung geschieht -und nicht ihretwegen. Es ist immer wieder dieses peinliche deutsche Krämerseelengehabe, das sich nicht vorstellen kann (und will…), Bedürftige bedingungslos zu alimentieren und sie auch dann (noch) zu unterstützen, wenn sie sich aufgezwungenen Gesprächen über ihre Zukunftspläne verweigern oder schlicht und ergreifend keine Ziele benennen können.

Unterschwellig transportiert dieses Denken zudem die nicht unproblematische Gleichung, dass nur das Sinn hat, was ein Ziel hat. Spätestens jetzt, bei der Hinzunahme des Begriffes „Sinn“, wird deutlich, wie nah wir immer noch bei dem sind, was wir in Deutschland schon einmal hatten und als es noch kein BTHG brauchte, weil die Euthanasie ja noch „wirkte“. (Schämt Euch in Berlin für diese gedankliche Assoziation!).

Dann wird zwar vordergründig über Zukunfts- /Teilhabepläne beraten und entschieden, ob man bereit ist, die darin getroffenen Festlegungen zu alimentieren, in Wahrheit aber wird über „Sinn“ befunden und entschieden, was man des Alimentierens für sinnvoll hält und was nicht. Wer hat „sinnvolle“ Ziele und führt (folglich) ein „sinnvolles“ Leben und wem muss man da noch auf die Sprünge helfen?

Wenn Leistungserbringer künftig auch noch schriftlich zu garantieren haben, dass der Leistungsberechtigte mit den bereitgestellten finanziellen Ressourcen (selbstverständlich auch) die mit ihm vereinbarten Ziele erreichen wird, dürfte selbst Laien schwanen, dass irgendetwas in der Logik klemmt und dass, nicht zuletzt auch unter bravem Applaus von Wohlfahrtsverbänden, einem trojanischen Pferd Einlass gewährt wurde.

Wir lernen: Man kann sich im Kreis drehen, ohne es zu merken…

Mit „Plänen“ lässt sich nicht gestalten, sondern verwalten. Sie sind denkbar ungeeignet, auf etwas so hochkomplexes wie „Leben“ zu reagieren, weil sie von statischen Bedingungen ausgehen. Und genau das ist Leben nicht: plan-, berechen- und vorhersehbar.

Vielmehr ist Leben das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben.

Und es sind Ideen, Phantasie, Kreativität und Flexibilität, aus denen „Zukunft“ gemacht wird.

Ach ja, und mit Freundschaft und Vertrauen hat das auch zu tun.

Zum Glück!


Zurück zur Übersicht der Kolumnen