Kolumnen

Sie wissen nicht, was sie tun!


Wer dieser Tage einen einigermaßen ausgewogenen Rundumblick zur Einschätzung der aktuellen politischen Geschehnisse unternimmt, ist gut beraten, um diejenigen, die mit einfachen Erklärungen aufwarten, einen großen Bogen zu machen.

Zu denjenigen, die etwas weiter ausholen, gehört der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch. Er hat den Begriff der "Postdemokratie" für die heutige Situation geprägt und meint damit einen Zustand, in dem die offizielle Politik nur noch als Marketing funktioniert, während die Sachfragen ohne Mitwirkung der Wähler in elitären Zirkeln entschieden werden. Was die Wähler in wichtigen politischen Fragen denken, kümmert die Politik nicht. Ein zentrales Merkmal dieser postdemokratischen Strukturen, so Crouch, ist die „Rückkehr der politischen Privilegien für bestimmte Unternehmer – unter dem Deckmantel der Rhetorik der Marktwirtschaft und des freien Wettbewerbs.“ Dieses so schlussfolgert er, stelle „das gravierendste Problem für die Demokratie dar“.

Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Michael Hartmann, der jahrelang zu Eliten geforscht hat. „Demokratien werden von ihren Eliten zerstört“, so fasst die Frankfurter Rundschau den Tenor seines soeben erschienen Buches "Die Abgehobenen" -Wie Eliten die Demokratie gefährden, zusammen.

Vor gut zehn Jahren, richtig das war das Jahr der Bankenkrise, überlegte man ernsthaft, die schwächelnde Wirtschaft durch Konsumgutscheine wieder ins Laufen zu bringen. Dafür- und dagegensprechende Experten bevölkerten damals die Bildschirme und halfen uns bei unserer Meinungsbildung.

Und weil es ja nicht der mündige Bürger war, der schwächelte, sondern die ihm umgebende Wirtschaft, gab es am Ende eine Prämie, wenn ein altes Kraftfahrzeug verschrottet und ein Neuwagen oder Jahreswagen zugelassen wurde. Die sogenannte „Abwrackprämie“ war geboren, die nichts anderes als eine Initiative zur Ankurbelung der Autoproduktion war.

Dass nun just auch in jener Zeit die Idee der Autobauer, die Abgaswerte ihrer Motoren durch Betrug zu manipulieren, entstand, mag der für Zufall halten, der an das Gute im Kapitalismus glaubt.

Und es hat durchaus Stil, wenn uns viele Medien gern glauben machen wollen, dass wir Bürger uns vor einzelnen Menschen mehr fürchten müssen als vor Institutionen, Konzernen, Parteien und Verbänden.

Was ist schon der gewiefte „Florida-Rolf“ gegen ein bisschen verbaute „Schummelsoftware“?  Ist eigentlich Herr Martin Winterkorn, der jetzt mit einer Rente von täglich 3.100 Euro irgendwie über die Runden kommen muss, von irgendwem schon mal als „Schummel-Martin“ oder „Abgas-Martin“ bezeichnet worden?

Gern wird uns eingeredet, dass Unternehmen wie „Amazon“ oder „VW“ oder politische Entscheidungsträger weniger gefährlich für unser System seien als einzelne Bürger. Und natürlich ist es Absicht, dass uns „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ und „Deutschlands frechster Sozialschmarotzer“ (BILD) auflagenstark präsentiert werden, aber gut aufbereitete Fakten über „Nestlè“ und Co. erst weit nach Mitternacht im öffentlich-rechtlichen-Spartenkanal zu sehen sind.

Ist der „Schaden“ der durch ein bedingungsloses Grundeinkommen oder einen kostenlosen öffentlichen Personennahverkehr unserem System entstanden wäre, tatsächlich höher als der, den die „Schummel-Software-Verbauer“ oder diejenigen, die seit 2006 am Berliner Flughafen bauen, angerichtet haben?

Wohlbemerkt: Es geht nicht allein nur um die monetäre Seite, also den quantifizierbaren Schaden, sondern, was letztendlich schwerer wiegt, ist die durch verantwortungsloses und ignorantes Verhalten ausgelöste Beschädigung und Missachtung unseres gesamten gesellschaftlichen (Werte-)Systems.

Wenn Bundesverkehrsminister Scheuer im Zusammenhang mit dem Frankfurter Urteil zu den Diesel-Fahrverboten davon spricht, dass er Hardwarelösungen „nicht für sinnvoll“ und für eine „Verschwendung von Steuergeldern“, hält, dann ist dies durchaus als Bestätigung der Thesen von Crouch bzw. Hartmann zu sehen. Und da haben wir über die LKW-Maut noch gar nicht gesprochen.

Und wenn man Herrn Gauland, der fließend rechtsextrem spricht, wie es neulich die Frankfurter Rundschau treffend formulierte, oder den Spitzenkräften der CSU oder dem Verfassungsschutzchef aufmerksam zuhört, dann lassen sich keine direkten „Schäden“ aus der Wirkung ihrer Worte ableiten, aber dafür jede Menge Beschädigungen, die in ihrer Bedeutung weitaus fataler sind und die jederzeit zu Brandbeschleunigern werden können.

Ältere werden sich erinnern, dass es in der guten alten BRD ein Kampfflugzeug namens „Starfigther“ gab. Insgesamt 916 Stück waren davon im Einsatz. Dreihundert gingen durch Unfälle verloren, 269 darunter durch Abstürze, bei denen 116 Piloten ums Leben kamen. Stückpreis im Jahr 1961 rund 6 Mio. DM.

Ja, und wenn aktuell einige Staatsbedienstete im hessischen Finanzministerium offensichtlich mehrere hundert Millionen Euro Steuergelder verzockt haben, wie es Welt am Sonntag am 25. August 2018 berichtet, dann ist das wieder mal… eine folgenlose Katastrophe. Und natürlich nicht zu vergleichen mit den Bösewichtern die mit einem Luxusauto zum Job-Center fahren.

Denn ein solches Verhalten hat nach Ansicht unseres Arbeitsministers das Potenzial, den Sozialen Frieden und den Zusammenhalt in unserem Land zu gefährden.

Wie hoch ist eigentlich der „Schaden“, dem unser System durch stetig steigende Ausgaben für Menschen mit Behinderungen ausgesetzt ist?

Wenn man bedenkt, dass es irgendwie logisch ist, dass eine steigende Zahl von Leistungsberechtigten zwangsläufig zu mehr Ausgaben führt, dann lässt die mit dem Gesetz initiierte „Bremsung der Ausgabendynamik“ nichts Gutes ahnen.

Wenn Hilfe nun auf Antrag und nicht mehr ab amtlicher Kenntnisnahme zu gewähren ist, dann hat das rein gar nichts mit der UN-BRK zu tun, sondern mit der Hoffnung, dass sich die Zahl der Leistungsbezieher reduziert. Das legendäre „5 aus 9“ kommt natürlich auch aus dieser Ecke. Die „Bremsung der Ausgabendynamik“ heißt ins einfache Deutsch übersetzt: Es müssen wieder weniger werden!

Es ist den Betroffenen schon länger klar, wer von dem Gesetz profitiert. Man möge doch bitte endlich in den Berliner Büros, in denen willige Vollstrecker einer neoliberalen Denke zu sitzen scheinen, zur Kenntnis nehmen, dass „behindert“ kein Synonym für „blöd“ ist!

Seit Jahren setzt sich der Eindruck fest, dass sich die Politik vom Bürger (und nicht der Bürger von der Politik!) entfernt und dass er, der einst im Mittelpunkt stand, ihr zusehends im Weg zu stehen scheint.

Dieser Eindruck besteht insbesondere dann, wenn es um Personengruppen geht, denen gegenüber der Staat eine besondere Schutzpflicht hat: Menschen mit Behinderungen, pflegebedürftige Menschen, geflüchtete Menschen und Kinder.

Es geht um eine Neubesinnung, es geht um Bürgerzugewandtheit statt Industrie- bzw. Kapitalhörigkeit. Wer der Ansicht ist, dass wir heute dieselben Probleme hätten, wenn man sich damals gegen eine Abwrackprämie entschieden hätte, mag gern vortragen. (Immerhin hat der "Skandal" ja auch noch mal 1 Milliarde Euro Bußgeld in die öffentlichen Kassen gespült. Weiterdenken empfohlen!)

Politik ist kein Geschäft, sondern eine Dienstleistung! Da, wo Geld in der Lage ist, sich aus sich selbst heraus zu vermehren, stört Max Mustermann und ist dessen Anspruch auf reine Luft und nitratfreies Trinkwasser genauso lästig wie seine Ansprüche auf Inklusion und Teilhabe. Die Politiker scheinen sich wohler zu fühlen, wenn sie sich in der Nähe von Lobbyisten aufhalten, als wenn sie im Wahlkreisbüro mit Opa Heinz diskutieren.

Und während die Einen schon ihren ausformulierten Vorschlag für einen neuen Gesetzentwurf auf dem Stick zum kostenlosen Arbeits-Essen mitbringen, muss man für die Anderen Kugelschreiber, Schlüsselanhänger und Basecaps austeilen und darf sich dann deren ungehobelt vorgetragenen Forderungen, Ängsten und Erwartungen aussetzen. Ja, er ist lästig geworden, der Bürger. Das ist kein gutes Zeichen.

Aber ein Zeichen.


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