2. Zwischenruf November 2024

Sag mir, wo die Vielfalt ist...


Nein, es geht heute mal nicht um das klassische Thema der gesellschaftlichen Diversität, sondern um einen Aspekt, der bei diesen mit viel Leidenschaft geführten Diskussionen oftmals zu kurz kommt: Die Pluralität und Diversität unterschiedlicher Meinungen und Ansätze in den inhaltlichen Fachdiskussionen zum Thema der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.

Während sich aufgeschlossene Sozialarbeiter:innen dadurch auszeichnen, dass sie sich für Unterschiedlichkeit und Vielfalt in Bezug auf ihre Klienten einsetzen, zeichnet es sie beinahe genauso aus, dass es in den eigenen Reihen eher ruhig zugeht und dass sie es mit Vielfalt und Diversität nicht so haben. Wenn man beruflich sehr von Diversität überzeugt ist und sie als Merkmal einer lebenswerten und menschlichen Gesellschaft ansieht, verwundert es umso mehr, dass kaum fachliche Dispute geführt werden. Da kommt den professionellen Gutmenschen offensichtlich ihr Harmoniebedürfnis in die Quere und lässt sie in eine Falle tappen. 

Thomas Bauer hat vor einigen Jahren einen vielbeachteten Essay mit dem Titel "Die Vereindeutigung der Welt" geschrieben. Er stellt fest, dass überall, unabhängig wohin man schaut, ob in die Natur oder zu den Menschen und ihrer Kultur, eine „Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt“ zu beobachten ist. Er plädiert dafür, Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit und Uneindeutigkeit als Vielfalt und Bereicherung zu verstehen. „Denn“, so Bauer, „genau dies ist unsere Welt: uneindeutig“.

Ja, wir Menschen möchten immer gern alles kurz, knapp und eindeutig und fallen dabei allzu gern auf diejenigen herein, die versuchen, uns genau diesen Wunsch nach einfachen Antworten zu erfüllen und die uns mit einfachen Antworten unsere komplexe Welt erklären und die dann als Dank von uns in der Wahlkabine gern ein Kreuzchen als Gegenleistung hätten. Und wenn sie dann erst einmal das Sagen haben, reduzieren sie die Vielfalt so konsequent, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir auch dran sind. Das kann man nicht nur in der Geschichte beobachten, sondern auch in der Gegenwart.

Dieser Wunsch nach Eindeutigkeit bezieht sich auch auf unsere Fachthemen. Da verkündet beispielsweise Person/ Institution „A“, was für sie „Inklusion“ ist und dann meldet sich Person/ Institution „B“ und sagt, was für sie „Inklusion“ ist. Jede in ihrer Blase und jeweils von Menschen umgeben, die diese Definition nicht infrage stellen. Argwöhnisch beäugt man die Protagonisten der anderen, der -natürlich- „schlechteren“ Definition von „Inklusion“ und meidet ein gemeinsames Auftreten.

Was das hinterlässt, ist klar: Unsicherheit, Unverständnis und Unbeweglichkeit. Wie aber soll sich beispielsweise unser Verständnis von „Inklusion“ fachlich weiterentwickeln, wenn wir uns nicht auch mit den Kolleg:innen austauschen, die zu anderen Einschätzungen gelangt sind als wir selber?

Diese Wagenburgmentalität zieht sich schier endlos hin, vertieft die Gräben, macht vielfach mutlos und erzeugt Wut, Enttäuschung und Verbitterung, insbesondere natürlich bei denjenigen, die davon direkt in ihrer Existenz betroffen sind.

„Inklusion“ steht hier beispielhaft für eine ganze Reihe von Themen, zu denen auch Barrierefreiheit, Wohnheime und Werkstätten für behinderte Menschen, Pflegebedürftigkeit und Assistenz gehören und die damit selbstverständlich nicht abschließend ist.

Es bringt die fachliche Entwicklung nicht signifikant voran, wenn jeder in seiner geordneten Struktur verweilt: Links die Gegner von Heimen, rechts deren Befürworter und links die Kritiker der Werkstätten und rechts deren Befürworter und links die Politik mit ihrem Verständnis von Inklusion und rechts die Betroffenen. Das kennen wir nun schon seit Jahrzehnten und genauso lange drehen wir uns im Kreis und genauso lange enttäuscht es diejenigen, um die es geht.

Besonders herausfordernd ist es, die Verbände in den Diskurs einzubinden. Denn sie befinden sich in einer Art Legitimationsfalle. Einerseits verstehen sie sich als „Anwalt der Schwachen“ und gleichzeitig vertreten sie aber auch ihre Mitglieder und sind als Lobbyisten von Sozialkonzernen darum bemüht, ihren Mitgliedern zu auskömmlichen Rahmenbedingungen zu verhelfen. Da ist es nicht so einfach, eindeutig Flagge zu zeigen, denn dieses „Doppelmandat“ birgt schon genug Diversität, die, wenn man ihr mehr Raum gäbe, den Verbänden und den fachlichen Themen gleichermaßen zugutekäme.

Umso wichtiger im Sinne der Vielfalt ist es, endlich Eitelkeiten und Befindlichkeiten zu überwinden. So kann das nicht bleiben und ich bin davon überzeugt, dass sich an diesem erstarrten (Hilfe-)System nicht wirklich etwas ändern wird, solange wir nicht Unterschiedlichkeit als Bereicherung (an-)erkennen und kontroverser diskutieren und um Lösungen ringen!

Gibt es einen fachlichen Grund, warum beispielsweise die Entwickler:innen und Anwender:innen von Instrumenten der Hilfebedarfserfassung nicht mit denen in einen Dialog treten sollten, die ihre Zweifel an der Methode und ihren Ergebnissen haben? Was ist mit dem Argument, dass es nicht möglich ist, den Hilfebedarf für eine hypothetisch angenommene Lebenssituation solide quantifizieren zu können?

Da bringen wir uns um spannende Diskussionen und um wichtige Erkenntnisse.

Es geht nicht darum, dass eine Idee die andere dominiert und irgendwer als Verlierer vom Platz geschickt wird, sondern darum, dass es das fachliche Bewusstsein schärft, wenn man mit Personen diskutiert und sich mit Ideen und Ansichten auseinandersetzt, die man bisher noch gar nicht gedacht hatte.

Das wirkt schon ein wenig grotesk, wenn sich Mitarbeitende in Sozialberufen lautstark für Diversität einsetzen, in ihren eigenen Reihen aber davon nicht allzu viel wissen wollen. Sicher ist das auch ein Grund, warum aktuell die Sozialarbeit nicht mehr so kritisch ist, wie sie es einmal war und wie sie es eigentlich heute sein müsste!

Wohin entwickelt sich der Sozialsektor? Was wird, wenn das Geld fehlt, die dort Tätigen zu vergüten? Was wird, wenn es keine „dort Tätigen“ mehr gibt? Wer will eigentlich, dass es Kitas gibt? Machen erst Werkstätten für behinderte Menschen den Arbeitsmarkt inklusiv? Wie kann man Soziale Kompetenzen stärken? Was ist Inklusion und wen braucht man, um sie gesellschaftlich voranzubringen? Gibt es ein Ende der Professionalisierung des Helfens? Kann man das Soziale entökonomisieren? Was ist gute Sozialarbeit und woraus begründet sie sich?

Fragen über Fragen und stattdessen gibt es die hundertste Einladung zu einer Veranstaltung zum Gleichstellungsgesetz mit Powerpoint, Handout und Schnittchen...

Es gibt durchaus drängende Fragen und solange man sie allein oder unter Gleichgesinnten denkt, ist klar, dass kein befriedigendes Ergebnis zu erwarten ist.

Der französische Moralist und Essayist Joseph Joubert hat eine Fülle kluger Gedanken zu Papier gebracht, ohne je ein Buch geschrieben zu haben. Ein Gedanke von ihm beschäftigt mich in diesem Zusammenhang und er könnte schon so etwas wie die Erklärung dafür sein, warum wir in allen wichtigen Themen der Teilhabe jahrelang nicht wirklich voran kommen. Das Zitat lautet: „Der eine sagt gerne was er weiß; der andere was er denkt.“

Ja, was denken denn diejenigen, die uns ihr Wissen mitteilen? Und fehlt nicht etwas, wenn wir uns nicht auch unsere Gedanken austauschen?

Diversität ist wahrlich nicht bedrohlich, im Gegenteil: Uniformismus, Gleichmacherei und Vereindeutigung stellen eine wesentlich größere Gefahr dar. Dies gilt für das gesellschaftliche Zusammenleben genauso wie für unseren relativ kleinen Kosmos der Teilhabe für Menschen mit Behinderungen.

Denn, so merkt Joubert treffend an: "Das Ziel eines Konflikts oder einer Auseinandersetzung soll nicht der Sieg, sondern der Fortschritt sein."

In diesem Sinne: Etwas mehr Mut zur Vielfalt, geschätzte Kolleg:innen!



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