Kolumnen

Quo vadis Behindertenhilfe?

Die Landesrahmenverträge zur Umsetzung desB undesteilhabegesetzes (BTHG) sind auf der Zielgeraden. Ziemlich viel Aufregung in den Ländern herrschte, als es darum ging, das jeweilige Instrument zur Erfassung des individuellen Hilfebedarfs zu bestimmmen. Die sind nun festgelegt und jetzt kann es also losgehen mit der Bedarfsermittlung.

Da es jedoch keinen Rechtsanspruch auf einen Bedarf, sondern auf eine (bedarfsgerechte) Leistung gibt, ist die Frage nach der Leistung die zentrale Frage im ganzen BTHG. Wir müssen jetzt über Leistungen reden! Da sieht es allerdings wesentlich ruhiger aus, als bei den teilweise sehr hitzig geführten Debatten über das "richtige" Bedarfserfassungsinstrument. Das könnte sich rächen.

Dass das so lange gedauert hat und derweil die Rechte von Menschen mit Behinderungen gebeugt werden, hat nicht etwa fachliche Gründe, nein, da sind wir ganz gut aufgestellt, das passt schon. Das hat, natürlich, am politischen Gezänk und der großen Angst, nur ja nicht irgendetwas versehentlich zu beschließen, das mit Mehrkosten verbunden sein könnte, gelegen. Es geht ja nach wie vor um die Bremsung der Ausgaben bei steigenden Fallzahlen durch Ausbleiben euthanasiebedingter Einspareffekte, das sollte nicht vergessen werden.

Weil sich aus dem Bedarf, der jetzt deutschlandweit fachlich solide ermittelbar ist, die (zu gewährende) Leistung ableitet, ist es wichtig, sich spätestens jetzt in die Diskussionen einzubringen, die gern in Räumen geführt werden, in denen Mikrofone und Kameras als störend empfunden werden.

Die Frage, die zu stellen ist, lautet: Welche Leistungen leiten sich aus den jeweiligen Bedarfen ab und mit welchem Geldbetrag (welcher Personalrelation) werden sie hinterlegt? Und von mindestens gleicher Bedeutung ist die Frage, welcher (Rechts-)anspruch sich aus einem festgestellten Bedarf ableitet. Dies ist deshalb wichtig, weil es keinen Rechtsanspruch auf einen Bedarf, sondern auf eine (bedarfsgerechte!) Leistung gibt. Da achte man genau auf die Formulierungen der Damen und Herren Jurist*innen, wenn sie uns erklären, um was es sich denn bei der Bedarfsfeststellung verwaltungsrechtlich handelt. (Vermutlich wird man den Begriff „Bescheid“ zu umgehen versuchen…)

Die zentrale Kernfrage im ganzen BTHG ist die nach der (bedarfsorientierten) Leistung und ihrer finanziellen Bewertung. Alles andere war und ist Schaulaufen.

Um ein Bild zu bemühen: Jetzt hat man sich darauf geeinigt, mit welchem Messer (Instrument) die Kuchen und Torten, geschnitten werden. Jedoch ist für die Kunden nicht von Bedeutung, womit der Konditor den Kuchen schneidet, sondern wie groß die jeweiligen Stücke sein werden. Es sei daran erinnert, dass sämtliche Messerproduzenten von vornherein gesagt haben, dass sie keine Gewähr oder Haftung für die Größe der Stücke übernähmen, die mit ihren Messern geschnitten werden würden.

Wenn also eine Person Leistungen erhält, die sich beispielsweise auf eine Bedarfsermittlung mit dem Integrierten Teilhabeplan (ITP) begründen, dann sind die Damen und Herren in Fulda nicht für die (gewährten und erbrachten) Leistungen zuständig bzw. verantwortlich zu machen.

Das ist von Konstanz bis Flensburg nicht anders. Für dieses Thema tragen allein die Partner der Landerahmenverträge Verantwortung.

Die  Frage: „Mit welchem Messer schneiden wir denn nun?“, ist sehr gehypt worden und beleibe nicht so wichtig, weil der Gesetzgeber an Güte und Qualität des Produkts „Messer“ klare Anforderungen gestellt hat: Alle Verfahren sind ICF-basiert und ob der eine Griff grün oder blau ist und ob die Klinge aus Solingen oder Fernost stammt, ist insofern egal, weil sie alle identische Vorgaben erfüllen. Alle Messer müssen das Gleiche können.

Da der freundliche Konditor von nebenan mehr als einmal laut und deutlich verkündet hat, keine weiteren Kuchen und Torten zu backen, ist die Frage nach der Größe der einzelnen Stücke DIE Frage überhaupt.

Weil ein Kostenaufwuchs definitiv ausgeschlossen ist, der Konditor also bei seinem Nein bleibt, dient ihm die Anschaffung der neuen Messer nur zur Herstellung von  Verteilungsgerechtigkeit innerhalb des Systems. Sie hat aber eindeutig nicht zur Folge, dass mehr verteilt werden wird.

So wird künftig ein (ungefähr) gleicher Geldbetrag auf eine kontinuierlich steigende Zahl von Köpfen verteilt werden. Damit es da nicht wieder zu unschönen Protestaktionen kommt, hat sich der Konditor neue qualitätsgeprüfte ICF-basierte Messer angeschafft und möchte so den Eindruck erwecken, als seien ab jetzt die Messerhersteller für die Größe der Stücke verantwortlich. Welch ein Humbug!

Wer die Ausgaben in der Behindertenhilfe deckelt, der deckelt Teilhabe. Und wer die Anzahl der Torten deckelt, trägt Verantwortung für die Größe der jeweiligen Stücke.

Im Klartext heißt das, dass es nicht mehr Teilhabe geben, sondern dass sie anders verteilt werden wird. Dafür trägt einzig die Politik die Verantwortung und nicht irgendein wissenschaftliches Institut. Die zu kurze Bettdecke wird bleiben. Und wenn links gezogen wird, dann fehlt es (nach wie vor) rechts.

In den nüchternen Alltag übersetzt heißt das: Mehr Assistenten, die sich jemand vor Gericht erstreitet, werden dadurch finanziert, dass an der anderen Seite der Bettdecke irgendwer friert. Ein Mehr an Betreuung in der eigenen Häuslichkeit wird dadurch möglich, dass parallel mehr (preisgünstige) stationär organisierte Versorgung erfolgt. Das ist die einzige Möglichkeit, die dem Konditor bleibt, wenn die Backstube tatsächlich dunkel bleiben soll.

Natürlich klingt das im BTHG netter und hipper, ist es aber nicht. Und manch neuer Begriff, so scheint es, existiert nur, um uns das logische Denken zu erschweren.

Es ist höchste Zeit zu mehr Solidarität. Wenn es nicht mehr im Bäckerladen geben wird, dann ist mit Rangeleien im Verkaufsraum zu rechnen. Und da stehen beileibe nicht nur Hungrige an. Da sind auch satte Einkäufer anzutreffen, die mit fetten Einkaufszetteln am Tresen stehen, ihre Sammelbestellungen aufgeben und die mit dem Konditor per Du sind.

Und der eigentliche Deal wird genau mit diesen Leuten gemacht. Sie repräsentieren mächtige Einkaufsgenossenschaften und sie sind gut vernetzt. Und auch ihnen ist es nicht recht, wenn sich plötzlich Kunden zusammentun und gemeinsam Druck machen. Das war jedenfalls 2016 erschreckend deutlich wahrnehmbar und ist seitdem lebendig in Erinnerung.

Der Herbst 2016 hat aber auch gezeigt, dass es durchaus möglich ist, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen. Allerdings setzt das Geschlossenheit voraus. Um etwas zu bewegen, muss man zunächst selbst bewegt sein. Wäre doch schön, wenn (endlich!) aus dem bunten Flickenteppich von Initiativen, Vereinen, Interessengruppen und Verbänden (wieder) eine (Behinderten-)Bewegung werden würde..

Es geht darum, zu realisieren, dass (wir) alle miteinander vor dem Tresen stehen. Wir müssen, verdammt noch mal, für mehr Kuchen und Torten streiten! Wir müssen eine ebenso offen geführte Diskussion zum Thema "Leistung" einfordern, wie es sie damals zum Thema "Bedarf" (Bedarfsermittlung) gab. Alles andere wäre unlogisch und würde dem Konditor zuarbeiten. Es ist eine Situation erreicht, in der es ohne Zusammenhalt wohl kaum noch gelingen kann, (signifikante) Verbesserungen zu erreichen, bzw. das Schlimmste zu verhindern.

Aktuell dürften die „Maßgeblichen Interessenvertretungen“ ruhig etwas lauter sein und ihre Themen nach oben holen. Es sei denn, dass sie lediglich Alibi am Katzentisch der Großen sind. Dann wäre zu prüfen, inwieweit das mit der Intention des Gesetzgebers zusammengeht und welche Rechtskraft Landesrahmenverträge haben, an denen nachweislich keine wirkliche Mitwirkung der Maßgeblichen Interessenvertretung stattgefunden hat.

Am BTHG ist abzulesen, wie Menschen mit Behinderungen in den nächsten Jahren am gesellschaftlichen Leben teilhaben werden. Die Weichen sind gestellt. Wohin die Reise geht, ist klar. Und mittlerweile wird auch klar(er), was das bedeutet und welche Konsequenzen für Selbstbestimmung, Inklusion und Teilhabe sich für die Betroffenen daraus ergeben.

Wenn die Landesrahmenverträge erst unter Dach und Fach sind, und damit auch feststeht, wie groß die einzelnen Stücke künftig sein werden, wenn also die Preise (Personalrelationen) für Leistungen vereinbart sind und wenn auch klar ist, welche Kuchen und Torten mit dem neuen Messer geschnitten werden, -oder ob beispielsweise in den Werkstätten für behinderte Menschen nur so getan wird-, dann kann man getrost zu Hause bleiben und sich die nächste Ziehung der Deutschen Fernsehlotterie gemütlich vom Sofa aus anschauen. Das ist dann rille und vergleichbar überraschungsarm.

Wann, wenn nicht jetzt?


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