Vorträge und Referate
Mittendrin statt außen vor – Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und sportlichen Leben
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
zunächst möchte ich mich bei den beiden Fraktionen, der SPD und den LINKEN, herzlich für die Einladung bedanken. Danken möchte ich den beiden Parteien auch dafür, dass Sie sich des Themas „UN-Behindertenrechtskonvention“ und deren Konkretisierungsmöglichkeiten für und im Freistaat Sachsen mit viel Leidenschaft angenommen haben.
Stellvertretend für Ihr Engagement sei auf den von Ihnen eingebrachten Entwurf für ein Sächsisches Inklusionsgesetz hingewiesen, der eine große Vision skizziert und konkretisiert.
Sicherlich werden wir im weiteren Verlauf der Veranstaltung noch näher darauf eingehen. Insofern freue ich mich auch über die anderen von Ihnen eingeladenen Gäste und bin gespannt, welche Impulse von dieser Veranstaltung ausgehen werden.
Ich bitte allerdings um Ihr Verständnis, wenn ich in meinen Ausführungen zunächst einmal doch noch auf die großen Linien eingehen werde. Mir erscheint dies wichtig! Denn ich habe gemerkt, dass es ohne Vision und ohne Leidenschaft nicht gelingen kann, diese Aufgabe zu lösen. Die Kraft zum Entwickeln solcher Bilder entsteht meines Erachtens dann, wenn wir unserer Phantasie ein Mitspracherecht einräumen.
Und nun zu meinen eigentlichen Ausführungen:
Im Jahr 1995 hat das damalige “DeutscheS portfernsehen“ einen Werbespot (http://www.youtube.com/watch?v=S-tpvLR9Zj4) ausgestrahlt, in dem ein Mann zu sehen ist, der vor dem Fernseher sitzt und ein Fußballspiel anschaut. Es regnet und der Boden ist aufgeweicht. Es erfolgt ein Schuss auf das Tor, doch der Ball bleibt kurz vor der Torlinie in einer Wasserpfütze liegen. Das ärgert den Mann so sehr, dass er plötzlich aufsteht, zum Fernseher geht und ihn an einer Seite anhebt. Dadurch setzt sich der Ball wieder langsam in Bewegung und rollt über die Torlinie. „Mittendrin statt nur dabei“ lautet der Slogan der, begleitet vom Torjubel, eingeblendet wird und mit dem der Spot endet.
Sich nicht berieseln lassen, sondern Dinge beeinflussen. Vom Zuschauer zum Handelnden und aktiv Eingreifen in das Geschehen, das meint: „Mittendrin statt nur dabei“. Das „Nichts über uns ohne uns!“ ist deutlich zu hausbacken.
Spätestens seit 2009 ist es auch in Deutschland vorbei mit der Berieselung. Kein Pantoffelkino und auch keine „Pantoffelbehindertenhilfe“ mehr! Natürlich passt es den Spielern nicht, wenn da plötzlich jemand vom Sofa aufsteht und mal eben den Fernseher anhebt... Auch wenn sie keine Freunde sind, so kennen sie sich gut, die 22 Spieler. Die Positionen sind vergeben und man spricht mit Respekt voneinander. Auch die Regeln sind klar.
Bis der Mensch da plötzlich vom Sofa aufstand, hatte es sogar noch irgendwie Spaß gemacht. Und zum Sommerfest, so war es bereits besprochen, würde man wieder ein Benefizspiel veranstalten, dessen Erlös dem idyllisch am Waldrand gelegenen Behindertenwohnheim zugutekommen würde.
Sie sind so vertieft in ihr Spiel, dass sie die Regeländerung gar nicht bemerken. Ihr Trainer hatte wohl schon mal darauf hingewiesen, aber irgendwie war ihnen das nicht so wichtig, wie der Blick auf die Tabelle. Es entgeht ihnen, dass es nicht die FIFA ist, die die Regeln geändert hat, sondern die Vereinten Nationen. Das einzige, was sie merken ist, dass sich plötzlich, und wie von Geisterhand, der Ball in Bewegung setzt und ihr Spiel beeinflusst.
Es ist Tatsache: Es gibt Menschen, denen die UN-Behindertenrechtskonvention eher ungelegen kommt.
Während sich die Zuschauer schon lange eine Beteiligung gewünscht haben, sind es die Spieler, die „handelnden Akteure“, die ein Problem mit dieser „Regeländerung“ haben.
Das meine Damen und Herren, ist aus meiner Sicht der eigentliche Skandal: Diejenigen, die am meisten von der Materie verstehen, sind am unbeweglichsten. Und dreist eignen sich die genau jene Personen und Institutionen den Slogan „Nichts über uns ohne uns“ an, denen er ursprünglich gegolten hat.
Natürlich heißen ihre Verlautbarungen anders. Aber ihre Botschaft ist klar: „Eckpunktepapier“, „Empfehlungen“, „Positionspapier“, „Thesenpapier“, „Forderungen an die Reform der Eingliederungshilfe“ so oder so ähnlich nennen sie ihr „Nichts über uns ohne uns.“
Völlig unstrittig ist, dass aktives Mitgestalten nicht bedeuten kann, mal eben den Fernseher anzuheben und so ein Ergebnis herbeizuführen, das man gern hätte. Aktives
Mitgestalten ist nicht das „Zwischenfunken“ aus der zweiten Reihe, sondern das Mitspielen von Beginn an. Das gemeinsame Auflaufen auf dem Platz, das gleiche Trikot tragen und die eigene Zahl auf dem Rücken zu haben. Ein schönes Bild für das, was „Inklusion“ meint.
Noch ziert sich aber der Verein, seine Satzung zu ändern. Noch haben wir im Freistaat Sachsen kein Inklusionsgesetz oder einen Plan zur Umsetzung und Einarbeitung der neuen Regeln in die eigene Satzung. Noch wird abgewartet und sich abgeduckt.
Derweil versucht der Vereinsvorstand, sich ein wenig Luft zu verschaffen. Immerhin stehen in diesem Jahr Vorstandswahlen an. Da tut man gut, sich nicht angreifbar zu machen. Frei nach dem Motto: „Besser nach allen Seiten offen“ -auch wenn man dann unter Umständen nicht ganz dicht ist...
Argumente müssen her. Und was eignet sich besser als Geld? „Wenn künftig mehr als 11 Spieler pro Mannschaft aufs Spielfeld dürfen, dann geht das nicht ohne Beitragserhöhung“ lassen sie ihren Pressesprecher schon mal vorsorglich verkünden. Käme es zu der Änderung, könne zudem das Niveau sinken und sei der Klassenerhalt gefährdet.
Meine Damen und Herren, „Inklusion“ ist keine sozialromantische Phrase, sondern eine Form des gesellschaftlichen Miteinanders.
Es geht es um ein Zusammenleben, das ohne Ausgrenzung auskommt. Es geht nicht um Geld, sondern darum, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Wir dürfen die Kaufentscheidung nicht vom Geldbeutel abhängig machen.
Oder ist ernsthaft ein Politiker vorstellbar, der sich klar für Demokratie bekennt und dann folgende Worte in die bereitgestellten Mikrofone spricht: „Meine Damen und Herren, natürlich bin ich für Demokratie, aber sie muss bezahlbar sein!“
Stellen Sie sich vor, man hätte die Wiedervereinigung unter Finanzierungsvorbehalt gestellt und statt einer Vision hätte das Geld den Ton angegeben. Und genauso, wie wir heute immer noch für die Umsetzung unserer Vision von damals zahlen, werden wir auch für die Umsetzung der Vision einer inklusiv organisierten Gesellschaft noch lange zahlen.
Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist vielmehr, dass wir uns nicht verweigern dürfen, nur weil es kostet. Stellen sie sich das kleine Kind vor, das seit einigen Monaten eisern auf einen Besuch im Zoo spart. Als nun das Eintrittsgeld zusammen ist, geht es voller Stolz an die Kasse, leert die Münzen, die es in der kleinen schwitzigen Hand gehütet hatte, vor der Kassiererin aus und kauft sich eine Eintrittskarte.
Wir können nicht so lange sparen, bis wir das Geld für „Inklusion“ zusammen haben. Das geht deshalb nicht, weil „Inklusion“ keine ökonomische Idee und somit auch nicht quantifizierbar ist. Genauso wenig wie wir sparen können, bis wir uns „Demokratie“ oder „Wiedervereinigung“ leisten können. Wenn wir inklusiv zusammen leben wollen, dann ist das eine gesellschaftspolitische Aussage.
Während die Mutter zu dem Kind sagen konnte: „Zeig mal her, wieviel Geld hast Du denn schon? Ich kann Dir dann nämlich genau sagen, wieviel Geld noch fehlt bis Du Dir eine Eintrittskarte kaufen kannst“, würde die Frage auf „Inklusion“ bezogen lauten: „Wieviel Geld fehlt denn bitteschön noch, bis wir uns im Freistaat Sachsen „Inklusion“ leisten können? Reicht das, was da ist, oder muss noch angespart werden?
Wie lange muss man eigentlich sparen, bis man sich eine freiheitlich-demokratische Grundordnung leisten kann? Was würden Sie beispielsweise Nordkorea auf diese fiktive Frage antworten? Wieviel soll es denn schon mal jährlich zur Seite legen?
Wussten Sie eigentlich, dass Ghana, so habe ich mir sagen lassen, weltweit der Staat ist, in dem die UN-BRK bereits am weitesten umgesetzt ist? Bangladesch, El Salvador, Kuba, Jamaica, Namibia, Mexico, das sind Staaten, bei denen die UN-BRK bereits seit 2007 in Kraft ist.
Es ist doch gut, dass Inklusion keine Frage des Geldes ist, denn sonst könnten sich Staaten wie Bangladesch die UN-BRK gar nicht leisten. Warum aber die armen Nationen weniger Probleme mit der UN-BRK haben, liegt vielmehr daran, dass es in diesen Ländern bisher kaum Geld und kaum Strukturen gab. Da kam die UN-BRK quasi ganz gelegen.
Bei uns ist es genau anders herum. Hier kommt sie eher ungelegen. Wir tun uns nämlich nicht deshalb mit der UN-BRK schwer, weil wir zu wenig, sondern weil wir zu viel Geld und zu viele Strukturen haben. Uns steht das „Zuviel“ im Weg: Zu viele Gesetze und Gesetzbücher, zu viele Verordnungen, Erlasse, Richtlinien und Empfehlungen. Zu viele Ämter und Behörden. Zu viele Sonderwelten und Parallelstrukturen. Zu viele, die sich eingerichtet haben.
Es ist also durchaus denkbar, dass wir uns selbst im Wege stehen. Dann stellt eigentlich nicht so sehr der unabgesenkte Bordstein eine Barriere dar, sondern vielmehr die „Struktur Förderschule“, die „Struktur Werkstatt für Behinderte“, die „Struktur Wohnstätte für chronisch-psychisch kranke Menschen“ und so fort.
Hinsichtlich der Finanzierung dürfte es im Wesentlichen die Zuordnung zur Sozialhilfe sein, die eine Barriere darstellt und abgebaut werden muss. Weil wir alles umkrempeln müssen, Besitzstände aufgeben und uns völlig neu aufstellen müssen, darum ist es für uns schwieriger als für Bangladesch.
Wenn wir also sozusagen auf Augenhöhe mit Ghana kommen wollen, müssen wir eher ab- und um- als aufbauen. Das ist erfahrungsgemäß immer schwieriger, weil sich alle eingerichtet haben und jedes Rütteln am Fundament Begehrlichkeiten weckt und divergierende Interessen provoziert.
Das jüngste Beispiel dafür, dass Aufbau einfacher als Umbau ist, sind die letzten 20 Jahre: Während im Westen Anstalten aufgelöst wurden, wurde hier gönnerhaft die Heimmindestbauverordnung für Jahre außer Kraft gesetzt und kräftig gebaut.
Denjenigen, die aus dem Auftrag zur Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft eine Gelddebatte machen, ist zu unterstellen, dass sie diese Gesellschaftsform im Grunde nicht wollen. Wer viel hat, kann viel verlieren. Gegner der Inklusionsdebatte dürften vorwiegend zu denen gehören, die befürchten, viel verlieren zu können.
Die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, heißt einen völkerrechtlichen Vertrag zur Anwendung zu bringen. Deshalb geht es nicht um „Mehrkosten durch Inklusion“ sondern um (gesellschaftlichen) „Mehrwert durch Inklusion“.
Es stimmt im Übrigen nicht, dass Inklusion im Kopf beginnt. Inklusion beginnt vielmehr im Herzen.
Ein kleines Kind antwortete auf die Frage, ob es den Unterschied zwischen „Kopf“ und “Herz“ kenne: „Das, was ich im Kopf habe, das weiß ich und das, was ich Herzen habe, das tue ich!“
Der Kopf sucht Gründe, das Herz sucht Wege. Deshalb, meine Damen und Herren genügt es nicht, nur den Kopf in die Diskussionsdebatte einzubeziehen, sondern auch das Herz.
Solange aber Herz und Kopf nicht wissen, was „Inklusion“ ist, können sie den Händen auch nicht sagen, was sie zu tun haben.
Es handelt sich um eine Form gesellschaftlichen Zusammenlebens, in der auf Aussonderung bestimmter Gruppen/Personen verzichtet wird. Eine inklusiv aufgestellte Gesellschaft geht davon aus, dass Vielfalt Bereicherung und nicht Bedrohung ist. Eine Gesellschaft ist dann lebenswert, wenn sie die Summe ihrer Mitglieder wiederspiegelt.
Wer da ist, gehört dazu. Gleichberechtigt und vollumfänglich. Davon betroffen sind alle öffentlichen Bereiche und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge. Es geht um Teilhabe insbesondere in den Bereichen Bildung, Wohnen, Arbeit und Freizeit.
Damit nicht jeder irgendwann aufsteht und den Fernseher nach eigenem Belieben anhebt, braucht es Regeln. Dies dem Selbstlauf zu überlassen wäre fahrlässig.
Verschiedene Bundesländer, zu denen das unsrige leider nicht gehört, haben sich auf den Weg begeben und „Aktionspläne“ verabschiedet. Den Abgeordneten des Sächsischen Landtages wurde der Entwurf für ein Sächsisches Inklusionsgesetz vorgelegt. Es gerät auch hier so langsam etwas in Bewegung.
Wir sollten unsere Wahlentscheidung im Übrigen auch davon abhängig machen, wer die klarsten Vorstellungen zur Umsetzung der UN-BRK hat.
An dieser Stelle möchte ich uns noch einmal kurz in Erinnerung rufen, welchen Stellenwert in den Jahren der politischen Wende den sogenannten „Runden Tischen“ zukam.
Das Alte passte nicht mehr und das Neue passte irgendwie noch nicht. Da war es eine Sache der Vernunft, sich an einen Tisch zu setzen und aus unterschiedlichen Vorstellungen eine gemeinsame Idee zu entwickeln.
Und heute? Die „alte Eingliederungshilfe“ passt nicht mehr und die „neue UN-BRK“ passt irgendwie noch nicht. Eine ähnliche Situation wie damals. Deshalb möchte ich ausdrücklich für die Idee werben, einen „Runden Tisch Eingliederungshilfe Sachen“ ins Leben zu rufen.
Ob es dann am Ende „Aktionsbündnis Inklusion“ oder dergleichen heißt, ist nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass es kein „Plan“, sondern ein „Bündnis“ ist.
Die Erfahrung zeigt, dass es immer wieder mal Dinge gibt, die zu kostbar sind, um sie den „üblichen Verdächtigen“ allein zu überlassen. Deshalb braucht es eine Plattform, wo diese Dinge besprochen werden können.
Es war die Politik, die die UN-BRK ratifiziert und damit quasi die Bestellung für „Inklusion“ ausgelöst hat. Nun müssen von ihr auch konkretisierende Regeln erlassen werden. Solange sie dies nicht tut, besteht ein Vakuum in dem sich eine illustre und zusehends ansteigende Zahl von Akteuren tummelt. So dass am Ende durchaus die Gefahr besteht, dass von dem, was einstmals in New York unterzeichnet wurde, in Sachsen so gut wie nichts ankommt.
Von Helmut Schmidt stammt der Ausspruch: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Richtig ist wohl eher, dass wir krank werden, wenn wir keine Visionen mehr haben, keine Vorstellungen von Zukunft.
Es gibt gute Gründe, sich auf den Weg in ein „neues Zeitalter der Eingliederungshilfe“ zu machen. Der Startschuss ist bereits gefallen. Diejenigen, die beim Schiedsrichter einen Fehlstart reklamieren, irren. Was fehlt, ist Mut, der die Zweifel überwindet und der das halbvolle Glas sieht.
Ein Schuhfabrikant hat zwei Vertreter. Einer von ihnen ist ein Optimist und der andere ein Pessimist. Der Chef schickt beide nach Afrika. Sie sollen dort den Absatzmarkt erkunden und ihrem Chef berichten.
Die Rückmeldung des Pessimisten: „Chef hat überhaupt keinen Sinn. Hier laufen die alle barfuß“. Der Optimist meldet: „Chef, ein gigantischer Absatzmarkt, denn noch laufen hier alle barfuß!“
Eignen Sie sich also einen Blick an, der die Chancen sieht. Um im Bild zu bleiben: Die Schuhlieferung für Afrika ist unterwegs. Es kommt nun darauf an, was wir daraus machen.
In diesem Sinne wünsche ich den politisch verantwortlichen Akteuren, zu denen auch die heutigen Gastgeber zählen, Geduld, Kreativität und eine Vision für die es lohnt, sich einzusetzen: Die Vision einer inklusiven Gesellschaft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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