Vorträge und Referate

Inklusion – oder die Annährung an einen komplizierten Begriff


Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

da sitze ich nun und merke, wie in mir ein klammes Gefühl aufsteigt. Ich war wohl wieder mal zu vorschnell mit meiner Zusage für einen Redebeitrag. Ich habe ziemlich genau 30 Minuten für „Inklusion“... Dabei ist es nicht das Wort „Inklusion“ als solches, das mir die Sache schwer macht. Das lässt sich ja noch relativ schnell erklären.

Mir hilft auch nicht, dass in der amtlichen deutschen Übersetzung das Wort „Inklusion“ gar nicht gibt. Da ist nämlich von „Integration“ und nicht von „Inklusion“ die Rede.

Wenn man bedenkt, dass sogar „Google“ eine Übersetzungsfunktion hat, wundert man sich schon, warum die Beamten „Inclusion“ mit „Integration“ übersetzt haben und mag nicht glauben, dass dies einfach nur eine „Übersetzungspanne“ ist.

Nein, der Begriff ist eigentlich nicht so schwer zu erklären, haben doch sicher die meisten von uns schon einmal einen „all inclusive“-Urlaub gebucht. Was mir Unbehagen bereitet sind drei Dinge:


Mein 1. Unbehagen: „Inklusion“ ist kein pädagogischer Fachbegriff

Wir diskutieren hier einen Begriff, der nicht zu unserem beruflichen Standardvokabular gehört. „Inklusion“ ist weder ein pädagogischer noch ein therapeutischer Begriff. Solche Dinge sind für uns immer irgendwie unverdaulich. Während der Bauer nur das isst, was er kennt, blendet auch der Pädagoge gern das aus, was ihm suspekt vorkommt.

Mich erinnert das an die Situation vor gut zwanzig Jahren, als es plötzlich um Qualitätssicherung ging. Da spreizte sich nämlich plötzlich auch ein Begriff, der nicht zu unserem Fachvokabular gehörte. Denn was hatte bis dahin die Soziale Arbeit mit einem QM-Handbuch zu tun? Irgendwie, so hat es mitunter den den Anschein, sind wir bis heute nicht so richtig warm geworden damit.

Erst in jüngster Zeit, so ist zu beobachten, bahnt sich die Soziale Arbeit einen eigenen Zugang zu diesem Begriff. Hier sei beispielhaft auf das Projekt „Nueva“ hingewiesen, bei dem es Menschen mit Behinderungen selbst sind, die als ausgebildete Evaluatoren die Qualität der Angebote der Sozialdienstleister überprüfen.

Vermutlich steht uns hier mit dem Begriff „Inklusion“ die gleiche Aufgabe bevor: Wir müssen ihn übersetzen und ihn mit Begriffen und Dingen füllen, von denen wir etwas verstehen und zu denen wir einen Zugang haben.

Ein weiteres interessantes Projekt ist „My Rights – My Voice“. Hier werden Menschen mit Lernschwierigkeiten geschult und zu Trainern ausgebildet, die Schulungen und Seminare zur UN-BRK durchführen, „Sprecher in eigener Sache“ sozusagen.

Ich habe in einem solchen Seminar gesessen –und glauben Sie mir: Wenn sie Menschen mit Behinderungen die UN-BRK erklären hören, entsteht da plötzlich ein Gefühl für den Begriff „Inklusion“ und es eröffnet sich ein Zugang, der weiter reicht als die etwas plakative Ansage: „Inklusion – Von Anfang an dabei“

Wir sollten also bedenken, dass wir hier einen Begriff vor uns haben, der uns nicht vertraut ist, und zu dem wir uns deshalb Zugänge erarbeiten müssen, die nach Möglichkeit mit unserem „Vor“-Wissen und unseren Erfahrungen kompatibel sind.

Es gilt also, uns einen fremden Begriff anzueignen. Das, so scheint es mir, ist die erste Hürde, die es zu nehmen gilt.


Mein 2. Unbehagen: „Inklusion“ ist eine gesellschaftliche Utopie

Der zweite Grund, warum es mit dem Begriff „Inklusion“ schwierig ist, besteht darin, dass wir hier einen Begriff haben, der eine Utopie beschreibt. In unserem Fall handelt es sich um eine gesellschaftliche Utopie.

Das Wort „Utopie“ kommt aus dem griechischen und bedeutet soviel wie „Nicht-Ort“.

Bei einer Utopie handelt es sich nämlich um einen, ich zitiere, “Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an den zeitgenössischen historisch-kulturellen Rahmenbedingungen gebunden ist“. Eine Gesellschaftsordnung also, die sozusagen bisher noch keinen Ort hat und nur als Gedanke und Idee existiert, ein „Nicht-Ort“ eben.

Das mit dem „Nicht-Ort“ bekommt für uns gleich eine ganz neue Bedeutung, verstehen wir uns doch in der Behindertenhilfe und in der Sozialen Arbeit als Menschen, die Orte schaffen. Wir sind doch diejenigen, die sozial-räumlich, oder, um im Sprachduktus zu bleiben, sozial-örtlich denken und handeln. Und bis vor wenigen Jahren war es unumstößliches Selbstverständnis der Behindertenhilfe, dass Sie „Orte zum Leben“ bereithält.

Im engeren Sinn zeichnet sich also eine Utopie auch dadurch aus, dass sie zur Zeit ihrer Entstehung als nicht für sofort realisierbar gilt. Und genau das trifft auch auf unser Thema zu: „Inklusion“ ist nicht sofort realisierbar!

Fragt man nun nach den Gründen, die einer Realisierung von Utopien entgegenstehen, finden sich folgende drei Merkmale:


  1. Eine Utopie ist technisch nicht ausführbar, d.h., es wird erkannt, dass die technischen Möglichkeiten noch lange nicht so weit sind

Wie weit es noch ist mit unserer Utopie der „Inklusion“, wird schon allein dann deutlich, wenn wir mit offenen Augen durch die Straßen gehen und einmal gezielt danach schauen, wie viele öffentliche Gebäude überhaupt barrierefrei zugänglich sind.

Es gilt festzustellen, dass das Samenkorn „Inklusion“ auf einen harten und ungedüngten Boden gefallen ist, der nun quasi nachträglich „beackert“ werden muss.

Im Moment ist da noch nichts vorbereitet und wurden noch nicht wirklich Maßnahmen ergriffen, die dem Samenkorn eine Chance geben, aus ihm eine blühende Pflanze werden zu lassen. Inklusion braucht also auch technische Bedingungen, braucht sozusagen ein Setting.

Mit Ihrer Klausur haben Sie eine solche Möglichkeit, das „Setting“ zu verbessern und die Chancen zum Wachstum des Samenkorns „Inklusion“ zu befördern. Insofern findet nicht nur der Inhalt Ihres „Positionspapier Inklusion“ besondere Anerkennung, sondern auch der Umstand, dass Sie überhaupt eines haben.

Hermann Hesse sagt: „Jedes Ding ist, wie Einer es achtet“. Wir selbst können Dingen eine Bedeutung geben. Wenn ich beispielsweise Elektroautos sinnlos und blöde finde, werde ich mir keines kaufen. Ich werde es überall wo ich bin, schlecht machen und eine Vielzahl von Gründen aufzählen, warum ein Elektroauto sinnlos ist. Ich werde mit meiner Einstellung dazu beitragen, dass sich Argumente gegen Elektroautos weiter verbreiten und würde gern wollen, dass der Rest der Menschheit endlich begreift, dass Elektroautos wirklich der größte Mist sind.

So ist es mit der Inklusion auch. Sie wird das sein, was sie für Sie ist!

Klug sind wir, wenn wir uns bei unserer Meinungsbildung nicht von kleinkartiertem Denken die Sicht verbauen lassen. Denn: Was macht zum Beispiel ein entschiedener Gegner von Elektroautos, wenn es irgendwann nur noch Elektroautos geben sollte und er merkt, dass die große Politik nicht vor ihm Halt gemacht hat?

Glauben Sie mir, die Inklusionsdebatte wird nicht deshalb verstummen nur weil wir sie nicht mögen.

Deutschland ist eine von 155 der 193 Nationen weltweit, die die UN-BRK, also einen völkerrechtlichen Vertrag, unterschrieben haben. 27 EU-Staaten haben sie unterschrieben. In Berlin, Brüssel oder New York fragt niemand, ob Sie oder Ihre Kollegen dafür oder dagegen sind. Es ist deshalb strategisch ratsamer, sich schnell und aktiv um die Umsetzung der UN-BRK zu kümmern, als abzuwarten.

Warten ist passiv: Warten ist reaktiv. Warten lässt anderen den Vortritt. Warten bringt uns um die Chance, gestaltend einzugreifen.

Deshalb gilt für die Überwindung der Blockade bei der Realisierung von Utopien ganz klar: Das Feld pflügen und den Boden bereiten, damit das Pflänzchen wenigstens in unserem Garten blühen kann. Wir dürfen dabei getrost davon ausgehen, dass das Neugierige anlockt und sich unser Garten wohltuend von denen der anderen um uns herum abheben wird.

Der zweite „Utopierealisierungshemmer“ ist folgender:


2. Die Verwirklichung einer Utopie ist von einer Mehrheit oder Machtelite nicht gewollt oder wird von der Mehrheit der Bevölkerung als nicht wünschenswert abgelehnt.

Inklusion braucht Aufklärung, braucht Menschen, die für sie brennen. Leider sind mir im Laufe meines Lebens zu viele von denen begegnet, die stets das halbleere Glas gesehen haben.

Das ist ein besonders hartgesottener Menschenschlag. Während der Optimist „geht nicht – gibt’s nicht“ sagt, ist das Kredo des Pessimisten: „Nicht geht – geht“!

Skeptiker, das sind Menschen, die ihren Kopf so lange über einen Teller Suppe schütteln, bis sie endlich ein Haar darin finden und die dann natürlich auch das Ergebnis DNA-Analyse anzweifeln…

Inklusion braucht erfolgreiche Beispiele. Für Inklusion muss geworben werden, wir müssen damit von Haus zu Haus gehen.

Vor einiger Zeit war ich bei einem Träger beschäftigt. Wir hatten von der Heimaufsicht die Auflage, ein Heim zu schließen. Das hatte bauliche Gründe. Das Heim befand sich in exponierter Lage in Loschwitz. Es gab ein letztes Sommerfest und wir hatten dazu die Nachbarn eingeladen. „Wissen Sie“, Herr Frickenhaus, sagte einer der Nachbarn, „schade, dass Sie hier wegziehen. Jetzt ja nicht mehr, aber frühe, kamen die Heimbewohner und haben bei uns an der Haustür geklingelt. Sie haben unsere Wäsche abgeholt, haben sie gemangelt und sie uns dann wieder gebracht.“

Er hatte kein Problem mit „den Behinderten“, weil er von ihrer Anwesenheit profitierte,neudeutsch also eine „win-win-Situation“bestand.

Die Akzeptanz für unser Thema „Inklusion“ wird größer sein, wenn wir die Vorteile für die allgemeine Bevölkerung kommunizieren machen und entsprechend darstellen. Auch das Thema „Inklusion“ wird schneller Wirklichkeit, wenn es als „win-win“ verstanden werden wird.

Also: Nicht nur die Vorteile für die Betroffenen herausarbeiten und darstellen, sondern auch die für die nicht primäre Zielgruppe und Adressaten der UN-BRK sind.

Der dritte Grund, der Utopien die Transformation zur Wirklichkeit zu erschwert, lautet:


3. Es kann u.U. auch deshalb nicht zu einer Realisierung einer Utopie kommen, weil sie vom Autor eigentlich gar nicht gewollt war.

Das wäre dann so etwas wie „Inklusion aus Versehen“. Vielleicht sind wir da wieder bei der Frage, wie es dazu kam, dass aus „Inclusion“ „Integration“ werden konnte.

Wer weiß. Wenn es also so sein sollte, dass „Inklusion“ eigentlich gar nicht gewollt war, sie aber nun, warum auch immer, zumindest als fester Begriff auf der Tagesordnung steht, braucht es auch Kommunikation mit Behörden und staatlichen Institutionen.

Exemplarisch an der Debatte um die sogenannten „schulische Inklusion“ kann man sich gut vorstellen, dass irgendwo in einem Büro jemand sitzt und sagt: „Siehst Du, und genau deshalb habe ich mich dafür stark gemacht, dass in der deutschen Übersetzung „Inklusion“ gar nicht auftaucht.

Das also ist mein zweites Unbehagen: „Inklusion ist eine gesellschaftliche Utopie“. Was natürlich nicht bedeutet, dass wir uns hier geschlagen geben. Meine Bemerkung bitte ich da eher als Bestandsbeschreibung zu verstehen.

Der dritte Grund meines Unbehagens lautet:


Mein 3. Unbehagen: Der Begriff „Inklusion“ wird inflationär gebraucht

Das, was plötzlich in aller Munde ist, ist auch immer einer gewissen Form von Beliebigkeit ausgesetzt und steht in der Gefahr, verwässert zu werden.

Es ist mit Sorge zu beobachten, dass der Begriff zu oft verwandt wird. Er wird inflationär und wir mögen ihn eigentlich schon gar nicht mehr hören.

Was da allerdings passiert, im Prozess der scheinbaren Wortflut, ist etwas sehr Wichtiges: Es entsteht ein Kampf um die Deutungshoheit. Für den KSV ist „Inklusion“ sicherlich etwas anderes als für einen Förderschulleiter.

Wer setzt sich also durch? Wem gelingt es, die Meinungsführerschaft zu übernehmen?

Klar ist, dass wir ihn nicht der Ökonomie überlassen dürfen! Dies müssen wir allein schon deshalb tun, weil „Inklusion“ nämlich auch kein ökonomischer Begriff ist. Er gehört da nicht hin. Und genauso, wie wir ihn mit unseren Vorstellungen und Inhalten füllen, machen dies all diejenigen auch, die bisher auch noch nichts damit zu hatten. Das ist nicht verwerflich –wir müssen es aber wissen und wachsam sein.

Es gilt, den Begriff „Inklusion“ mit Leben zu füllen. Allerding findet gerade genau das Gegenteil statt. Zu beobachten ist ein regelrechter Kampf um die Interpretationshoheit des Begriffes „Inklusion“ Jeder gibt seinen Senf dazu. Man kann es schon gar nicht mehr hören.

Je klarer unsere Vorstellungen sind, desto deutlicher können wir in Diskussionen eintreten und uns einmischen in diesen Kampf um die Deutungshoheit. Dieser Kampf ist wichtig, denn es geht um sehr sehr viel. Und auch hier gilt: Wer viel besitzt, kann viel verlieren.

Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem „Positionspapier Inklusion“. Dabei ist nicht die Frage entscheidend, ob alles perfekt formuliert und künftige Entwicklungen ausreichend erkannt und berücksichtigt wurde, sondern dass Sie sich auf den Weg gemacht haben.

Sie werden so zum Mitgestalter dieses wichtigen Diskussionsprozesses und werden befähigt, Worte für Dinge zu finden.

Ein Erstklässer, der einzelne Buchstaben kennt, kann noch lange nicht lesen. Und, übertragen auf Ihre Situation, „nur“ weil Sie dieses Impulspapier haben, ist es noch lange nicht umgesetzt. Aber, wie das Kennen der einzelnen Buchstaben die Voraussetzung ist, später einmal lesen zu können, bildet das Kennen des „Impulspapiers Inklusion“ die Voraussetzung für einen Prozess. Es ist ermöglicht diesen Prozess und bildet quasi den Startschuss.

Auch in der Sozialen Arbeit wird die Zukunft aus Ideen gemacht. Da geht es um Visionen und um Vorstellungen davon, was sein wird.

Von Helmut Schmidt stammt der Ausspruch: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Richtig ist wohl eher, dass wir krank werden, wenn wir keine Visionen mehr haben, keine Vorstellungen von Zukunft.

Die Marktwirtschaft bringt das auf die griffige Formel: „Wer heute keine Visionen hat, hat morgen kein Unternehmen mehr“. Es gibt also gute Gründe, sich auf den Weg in ein neues Zeitalter der Eingliederungshilfe zu machen. Der Startschuss ist bereits gefallen. Diejenigen, die beim Schiedsrichter einen Fehlstart reklamieren, irren.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen Mut, der die Zweifel überwindet und der das halbvolle Glas sieht.

Ein Schuhfabrikant hat zwei Vertreter. Einer von ihnen ist ein Optimist und der andere ein Pessimist. Der Chef schickt beide nach Afrika. Sie sollen dort den Absatzmarkt erkunden und ihrem Chef berichten.

Die Rückmeldung des Pessimisten: „Chef, hat überhaupt keinen Sinn. Hier laufen die Alle barfuß“. Der Optimist meldet: „Chef, ein gigantischer Absatzmarkt, denn noch laufen hier Alle barfuß!“

Eignen Sie sich also einen Blick an, der die Chancen sieht. Um im Bild zu bleiben: Die Schuhlieferung für Afrika ist unterwegs. Es kommt nun darauf an, was wir daraus machen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Veranstaltung einen guten Verlauf und bedanke mich fürs Zuhören.



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