Kolumnen

Hilfe, Bedarfsermittlung! (2)


Mit erheblicher Verspätung finden in den einzelnen Bundesländern gegenwärtig Festlegungen zu dem im Bundesteilhabegesetz (BTHG) geforderten Instrument zur Hilfebedarfsermittlung statt. Dass die zeitliche Vorgabe gleich 16x gerissen wird, hängt nicht nur damit zusammen, dass es sich um ein fachlich schwieriges Thema handelt, sondern auch damit, dass es um viel, viel Geld geht.

Solche Konstellationen fordern per se eine kritische Beobachtung, wenn man nicht hinterher unangenehm überrascht werden will.

Im Muttiheft der Akteure steht die Aufgabe, ein Verfahren zu bestimmen, mit dem Hilfebedarfe standardisiert ermittelt werden können, aus denen sich passende Hilfeleistungen beschreiben und ableiten lassen, die in Geld umzurechnen sind und die so beschrieben und vereinbart werden können, dass ihre Wirkung kontrollierbar ist. Klingt einfach.

Ist es aber nicht.

Hier trifft das Licht der UN-BRK auf die Bremsung der Ausgabendynamik. Da ist Wachsamkeit geboten und was gegenwärtig passiert, lässt sich in folgendem Bild darstellen:

Jemand hat preisgünstig ein renovierungsbedürftiges Haus gekauft und bittet nun einen befreundeten Architekten um Hilfe. Der Architekt rät seinem Bekannten, sich nicht von jedem Handwerker beschwatzen zu lassen, sondern zunächst einmal anhand einer speziellen Checkliste den Bedarf an Bauleistungen vom Dach bis zum Keller, Raum für Raum, zu erfassen. Die Liste müsse so präzise sein, dass sie tatsächlich alle Bedarfe erfasse und man sich sicher sein könne, mit dieser Liste den Sanierungsbedarf seines Hauses komplett erfassen zu können. Dies sei für die spätere Ausschreibung von Leistungen eine günstige Voraussetzung, da die Leistungen sehr präzise ausgeschrieben und die Kosten vorab relativ genau kalkuliert werden können.

Das BTHG enthält die Vorgabe, dass die Länder ein  Instrument zu bestimmen haben, das zur Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs einer Person verbindlich zur Anwendung kommen soll. Das klingt mächtig gewaltig, ist aber unterm Strich nichts anderes als eine Art „Checkliste“ mit der der individuelle Bedarf einer Person ermittelt werden kann.

Einige Bundesländer, zu denen Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern zählen, haben entschieden, die Erfassung mit dem „Integrierten Teilhabeplan“ (ITP) vorzunehmen, für den das „Institut Personenzentrierte Hilfen GmbH“ in Fulda verantwortlich zeichnet.

Was beim Architekten die einzelnen Räume (Küche, Bad, Flur…) sind, sind hier die einzelnen Lebens- bzw. Teilhabebereiche (Arbeit, Freizeit, Kultur,…), in denen nun die jeweiligen individuellen Bedarfe ermittelt werden. Und während der Architekt Flächen berechnen und Leistungen (30 Meter Elektrokabel in Ziegelmauerwerk verlegen, …) exakt ausschreiben kann, sieht das für Soziale Dienstleistungen schon ganz anders aus.

So empfehlen die ITP-Entwickler, den zur Bedarfsdeckung erforderlichen Zeitbedarf zu schätzen. Es ist alles andere als eine Fußnote, sondern eine ernstzunehmende Feststellung, dass die Bemessung der Hilfen nicht auf der Grundlage von Gewissheiten erfolgt, sondern auf der Grundlage von Annahmen.

Wer schätzt, kann auch mal danebenliegen und hat zudem das Problem, sollte eine andere Schätzung zu einem anderen Ergebnis kommen, dieser fachlich fundiert widersprechen zu können. „Schätzen“ ist nicht „Wissen“. „Schätzen“ ist „Vermuten“, ist „Annehmen“ und ist „Annäherung an Realität“.

Doch damit nicht genug: Denn nun gilt es, einen Preis zu ermitteln. Wenn der individuelle Hilfebedarf einer Person eingeschätzt ist und der Leistungserbringer dafür einen Preis errechnet hat, kann er diesen aber nicht einfach festsetzen, sondern muss diesen mit dem Kostenträger verhandeln.

Nun wird also ein auf der Grundlage von Schätzungen ermittelter Preis Gegenstand einer Verhandlung. Und derjenige, der die Leistungen will, darf nur dann kaufen, wenn sich das aktuelle Preisangebot im unteren Drittel derjenigen befindet, die eine vergleichbare Leistung anbieten.

Und, quasi als Sahnehäubchen des ganzen Procedere, sozusagen im Zenit des gleißenden UN-BRK-Lichtes, wird auf diesem Fundament zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer eine Vereinbarung zur Wirkung abgeschlossen. Kürzung bei Schlecht- bzw. Minderleistung.

Spätestens jetzt würden sich die Handwerker vom Architekten mit ein paar unfreundlichen Worten verabschieden, während sich in Verbänden und Politik immer noch genug Claquere finden, die entweder selber glauben, was sie sagen, was schon schlimm ist, oder wollen, dass sich der Unmut aus dem Herbst 2016 nicht wiederholt, was ungleich schlimmer ist.

Wenn man dem Handwerker, der offensichtlich ein Fenster falsch eingebaut hat, ans Leder kann, dann soll das nun auch für Sozialdienstleister im BTHG-Zeitalter gelten. Dass der Bedarf aber auf der Grundlage einer Schätzung ermittelt und dass das kalkulierte Preisangebot dann noch auf im unteren Drittel angesiedelte Konkurrenzangebote gedrückt wurde, gehört zum lästigen Kleingedruckten.

Ach ja, und dass der Mensch kein Ding ist, sollte nicht unerwähnt bleiben.


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