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Das Diskussionspapier zur Enthospitalisierung von stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe


Das Diskussionspapier stammt aus dem Jahr 1999. Ich hatte es verfasst, nachdem klar war, dass die Schaffung von "BRD-Standards" in den ehemaligen stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe im Freistaat Sachsen (und natürlich letztlich in allen "Neuen Bundesländern") sowohl viel Zeit, als auch viel Geld kosten würde und dass damit gleichzeitig die stationäre Versorgungsstruktur präferiert werden würde, obwohl es wissenschaftlich gestütze Belege dafür gab, dass die ambulante Versorgung sowohl fachlich als auch finanziell der bessere Weg sei.

Das Papier habe ich seinerzeit den Fachkollegen der anderen Verbände, den Leitungskräften diakonischer Einrichtungen der Behindertenhilfe und an Freunde und Bekannte. unter anderem auch an Klaus Dörner, versandt.

Es bleibt zu hoffen, dass sich kreative Menschen mit diesem Thema genauer befassen und diese "Wendejahre" und ihre historischen Chancen und Versäumnisse für die Menschen mit Behinderungen genauer untersuchen!

Um Komplikationen zu vermeiden, hatte ich meine damalige Privatanschrift angegeben.

Leider ist das Papier im Original nicht mehr auffindbar. Ich danke Herrn Prof. Dr. Ulf Liedke von der Evangelischen Hochschule Dresden, der mir eine Kopie zur Verfügung stellte.

Nachfolgend nun die Abschrift:



Diskussionspapier zur Enthospitalisierung von stationären Einrichtungen der Behinderten-hilfe im Freistaat Sachsen


-ein Diskussionspapier-


 vorgelegt

von Roland Frickenhaus


 

1. Bankrott und Ohnmacht

Es  ist Tatsache,  daß  es  für  Träger  von  Einrichtungen  der  stationären  Behindertenhilfe  (nicht nur  in  Sachsen) immer  schwieriger  werden wird,  Wohnheimum- und -neubauten finanziert zu bekommen. Dies trifft nicht selten auch   dann zu, wenn der bauliche Zustand (Heimmindestbauverordnung) so desolat ist,  daß eine Betriebsgenehmigung nicht erteilt werden dürfte.

Unser Gemeinwesen ist an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit gestoßen, weil es Gesetzesvorgaben nicht umsetzen kann, die es selbst erlassen hat. Niemand wagt es, die Wege zu verlassen, die zu dieser Situation geführt haben. Im Sozialbereich, hier sei nur an das Kindergeld oder die Sozialhilfe erinnert, ist dies ebenfalls zu beobachten.

Die Zeit drängt, nach Strategien zu suchen, dieses Problem zu lösen solange es noch zu lösen ist. In der Vergangenheit ist wichtige Zeit damit vertan worden, daß man sich in seine und seinen Positionen versteift hat.

Es fällt auf, daß es zwei grundsätzlich unterschiedliche Reaktionsmuster gibt, wie Menschen und Menschengruppen mit Problemen umgehen. Das effizienteste Muster besteht darin, neue Wege unbürokratisch und direkt zu beschreiten. Diesem Ansatz ist eigen, daß man sich selbst solange als problemimmanent begriffen hat, wie man sich nicht ändert.

Kleine Systeme haben den Vorteil, daß sie beweglich sind und in der Regel einen direkten Zugriff auf die Fehlerquelle bieten. Änderungen sind relativ unbürokratisch und schnell zu verwirklichen.

Je größer jedoch Systeme werden, desto schwieriger ist es, Probleme direkt zu lösen. Ein klarer Beweis für diese Tatsache ist die Feststellung, daß es eben nicht möglich ist, innerhalb eines Jahres alle in der Bundesrepublik Deutschland atomar betriebenen Kraftwerke abzuschalten. Gegenseitige Abhängigkeiten, unterschiedliche Interessen und etablierte Gewohnheiten führen dazu, daß Probleme gemanagt werden, was nicht zwangsläufig identisch einer Lösung ist.

Am Beispiel des Umgangs mit der Atomfrage wird aber noch etwas deutlich: Weil Atom eine Gefährdung für die Natur darstellt, hat man Strahlengrenzwerte bestimmt, Sicherheitsvor-kehrungen erlassen und dergleichen mehr. Ein riesiger bürokratischer Apparat wurd geboren, dessen einzige Aufgabe darin besteht, Probleme händelbar zu machen.

Atom ist aber doch nicht deshalb gefährlich, weil die Verantwortlichen bisher fahrlässigerweise keine Grenzwerte definiert hätten. Das Grundproblem, daß atomare Strahlen Leben zerstören, wird überhaupt nicht durch die Festlegung auf Grenzwerte gelöst.

Diesem Denkansatz ist eigen, daß er die Ursache zur Nebensache macht. Signifikant für diese lineare Arte des Denkens ist, daß sie nicht klar und mutig abfragt, ob die erarbeitete Lösungsstrategie ursächlich mit der Entstehung des Problems verbunden ist. Diese Fahrlässigkeit wiederum ist letztendlich problemstabilisierend und produziert logischerweise Folgeprobleme.

Übertrieben könnte durchaus formuliert werden, daß wir nicht an den Problemen und ihren Ursachen herumlaborieren, sondern an den Folgen falscher Lösungsstrategien. In großen Systemen, das gilt für den Staat und seine Verwaltung genauso wie für große (gemeinnützige) Bürokratien, sind zu viele Menschen damit beschäftigt, Probleme fein und filigran zu zerlegen, statt sie zu lösen.

Es ist schlichtweg falsch, zu glauben, daß die Festlegung auf Strahlengrenzwerte zur Folge hat, daß Atom nicht mehr strahlt.

Es ist deshalb auch falsch, zu glauben, daß die Einführung von Qualitätssicherungsver-fahren in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zur Folge haben wird, daß sich die Lebensbedingungen eingliederungshilfeabhängiger Menschen verbessern wird.

Der Grund, warum wir uns mit Fragen der Qualitätssicherung beschäftigen, hat nichts mit der ursächlichen Entstehung des Problems zu tun.

Es geht nämlich den eingliederungshilfeabhängigen Menschen nicht deshalb schlecht, weil sie in der Vergangenheit nicht nach qualitätssichernden Kriterien versorgt worden wären, sondern  deshalb, weil der Staat kein Geld mehr hat, Eingliederungshilfeleistungen zu finanzieren.

Es ist deshalb vorhersehbar, daß die säuberliche Zerstückelung des Problems, das Bilden von Leistungstypen zum Beispiel, überhaupt nicht geeignet ist, das Problem zu lösen.

Es ist leider häufig zu beobachten, daß in Ausschüssen, Arbeitskreisen und Konferenzen Lösungsideen diskutiert werden, die nichts mit der Entstehungsursache zu tun haben. Die Folge ist klar: die Ergebnisse wirken letztendlich problemstabilisierend. Der Infarkt des ganzen Systems ist deshalb nur noch eine Frage der Zeit.


2. Wissen und Verantwortung

Zu Recht hat Prof. Dörner in seinem bemerkenswerten Vortrag „Ökonomisierung des Sozialen -Nachgeben oder Standhalten?" (11.09.1998, Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn) sehr deutlich darauf hingewiesen, daß sich (u.a.) die Diakonie künftig stärker mit ihrem eigenen Selbstverständnis auseinanderzusetzen  haben wird.

Dörner führt unter anderem aus, daß 70% der chronisch psychisch Kranken und 50% der geistig Behinderten „unter fachlichen Gesichtspunkten auf der Stelle entlassen werden  können und daher auch müssen, weil sie mit ambulanter Betreuung genauso gut oder besser zurechtkommen; bei den anderen würde es etwas länger dauern, aber im Prinzip gäbe es keinen psychisch Kranken, oder geistig Behinderten, der dauerhaft in einer Institution leben müsse."

Ferner berichtet Prof. Dörner darüber, daß innerhalb von 15 Jahren 435 chronisch psychisch Kranke und geistig Behinderte des ehemaligen Landeskrankenhauses  Gütersloh entlassen wurden (70% - 80% davon in ambulante Betreuung), darunter auch 70 geistig behinderte Menschen, die nur wegen ihrer besonderen Schwierigkeit ins Krankenhaus gekommen waren. Nachweislich wurden keine Mitarbeiter entlassen und dennoch erhebliche Kosten eingespart.

Es ist erkennbar, daß Anbieter sozialer Dienstleistungen, wenn sie künftig existieren wollen, nicht ein besseres, sondern ein anderes Produkt werden anbieten müssen. Ein anderes Produkt heißt aber zuallererst, sich ein anderes Selbstverständnis zu erarbeiten.

Der Hinweis, daß dies für den Staat und seine Verwaltung analog gilt, ist dabei ebenso selbstverständlich.


3. Die Thesen

Ausgehend von der Erkenntnis, daß die ambulante Versorgung behinderter Menschen auch finanziell günstiger ist, ist verwunderlich, daß dieser Weg sowohl von den Trägern als auch offiziellen Stellen des Landes bisher eher halbherzig beschritten wurde.

Die Gründe, über die sicherlich nur spekuliert werden kann, sind meines Erachtens nach sehr vielschichtig und lassen sich in der simplen Erkenntnis zusammenfassen, daß es an Mut beider Seiten zu neuen Wegen fehlt.

Auf Seiten der Träger ist zu vermuten, daß die Benennung folgender Ursachen nicht ganz

falsch ist:

  • Eine gut hundertjährige Tradition, die ihren Ursprung im Bau fester Häuser für behinderte Menschen hat. Die Häuser stehen teilweise noch und das Selbstverständnis, nämlich das Haus zu füllen, ist nie sonderlich überdacht worden und somit annähernd so alt.
  • Als Lehre aus ihrem Versagen während der Nazizeit scheinen kirchliche Einrichtungen ein Überbehütungssyndrom entwickelt zu haben. Es soll nicht noch einmal vorkommen, daß jemand einfach abgegeben wird.
  • Aus den Trägern, die spontan,selbstlos und unkonventionell begannen, sind Unternehmen geworden. Nicht umsonst diskutieren Träger deshalb die Frage nach der Identität, verbunden mit der Sorge, ihrer eventuell bereits verlustig geworden zu sein.
  • Durch den Wettbewerb und die allgemeinen Zeiterscheinungen sind Träger vielfach dem Zeitgeist gefolgt, der darin besteht, sich über Größe statt über Inhalte zu definieren.
  • Durch das Fehlen klarer Anreize und Formulieren eindeutiger Absichten von Seiten des Staates ist es für Träger nicht lukrativ und praktikabel, ihr Kredo, ambulant vor stationär,auch wirklich umzusetzen.
  • Viele Träger verstehen unter genehmigten Eingliederungshilfeanträgen nicht einen gesellschaftlichen Auftrag, sondern in erster Linie eine Zusage zur eigenen Existenzsicherung. Demzufolge findet Eingliederung vorrangig in den eigenen Mikrokosmos und zwar mit dem Ziel statt, diesen zu erhalten.
  • Tarifvertragliche Bindungen sorgen für eine Starrheit, mit der der Anspruch und der Auftrag, fremdabhängige Menschen bedarfsgerecht und situativ zu betreuen, für die Träger fast unmöglich wird.

Diese Reihe ist sicherlich nicht vollständig, soll aber ihre Ergänzung dadurch erfahren, daß die Rolle des (Frei-)Staates betrachtet wird:

  • Obwohl der Freistaat mit der Auflösung der in seiner Trägerschaft befindlichen Heimen hätte beginnen können, hat er Entflechtung durch Überführung in andere überwiegend stationäre Wohnformen betrieben.
  • Der Freistaat hat Regelungen erlassen, die er hinsichtlich ihrer Praktikabilität und Sinnhaftigkeit gut selbst hätte testen können. Es hätten ihm bereits seine eigenen Mitarbeiter sagen können, daß die entsprechenden Regelungen von falschen Grundannahmen ausgehen und somit nicht praktikabel sind.
  • Kompetenzrangeleien zwischen Behörden lähmen sowohl die Behörden selbst als auch die Innovationsbereitschaft der Träger. Als Beispiel sei hier nur an die Fragestellung erinnert, wer für geistig behinderte Kinder (KJHG ./. BSHG) zuständig ist. Zum Selbstverständnis der Behörden sollte es gehören, aus Rechtsunsicherheit Handlungsbedarf zur Klärung abzuleiten.
  • Mit dem Umstand, daß viele Heimplätze nicht der Heimmindesbauverordnung entsprechen, ist der Freistaat so umgegangen, daß er den Vollzug der Verordnung (befristet) ausgesetzt hat. Das heißt, daß er abwartet, bis entsprechende Neubauten realisiert sind. Insofern hat er den Vorwurf auszuhalten, daß er kein echtes Interesse an der Auflösung von Einrichtungen und somit an einer flächendeckenden Enthospitalisierung zu haben scheint.

Die bisherigen Ausführungen lassen sich in folgender Grundannahme zusammenfassen: Für die gegenwärtige Problemlage tragen alle Beteiligten Verantwortung. Denn sie ist  nicht das Ergebnis einer allgemeinen Zeiterscheinung, der  alle willenlos ausgesetzt sind, sondern das Ergebnis unseres Umgangs mit diesem Sachverhalt. Das führt zu der eindeutigen Feststellung, daß die Beteiligten nicht zu verhandeln sondern zu handeln haben.

 

4. Die Umsetzung

In Sachsen ergibt sich eine Besonderheit, die nahezu provoziert, sich den Problemen von einer anderen Seite zuzuwenden. Denn im Freistaat leben zur Zeit ca. ... Personen in Heimen der Behindertenhilfe. ... dieser Menschen wohnen insofern in gesetzwidrigen Verhältnissen, als ihr Lebensraum nicht den Anforderungen des Gesetzgebers genügt (HeimMindesBauVO).

Somit ergibt  sich ein Bedarf von ... Heimplätzen, was einer Größenordnung von ungefähr  ... Heimen mit  einer Platzzahl von  jeweils 36 Plätzen  entspricht. Der geschätzte Finanzbedarf zur Realisierung dieser Projekte liegt bei ... DM.

Unter der Annahme, daß der Staat die entsprechenden Gelder aufbringen kann, ist bei  den allgemein üblichen Zeiten für  Planung, Beantragung, Genehmigung und Fertigstellung  in schätzungsweise... Jahren  damit zu rechnen, daß  die gesetzwidrigen Zustände durch Neubauten abgebaut sein werden.

Hier nun die Vorschläge:

  • Verabschiedungeiner Resolution, in der sich Beteiligten grundsätzlich zum flächendeckenden Aufbau ambulanter Betreuungsstrukturen mit dem Ziel verständigen, keine zusätzlichen Neubauten zu realisieren.
  • Festlegung auf Eckwerte (Zeit, Personenzahl, etc.), Berufung einer Kommission, Verständigung über deren Arbeitsweise und Kompetenzen.
  • Suche nach einer wissenschaftlichen Begleitung sowohl bei der Erstellung eines Konzeptes als auch für die Phase der Umsetzung. Verständigung auf ein Pilotprojekt.
  • Bildung einer Kommission, Definieren der Arbeitsaufträge: Sammeln demografischer Daten, Formulieren von Bedingungen, die Voraussetzung für ein Gelingen des Projektes sind, Erstellen eines Konzeptes für die Realisierung. Erstellen einer Kostenanalyse und eines Zeitrasters.


Radebeul, den 04. März 1999



 Roland Frickenhaus


 


Anschrift des Verfassers: Roland Frickenhaus, ...straße 19, 01099 Dresden



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