Vorträge und Referate

Die Sprache wiederfinden – Oder: Warum Empörung und Empowerment zusammengehören


Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung und die Möglichkeit, mich in die Diskussion um die Teilhabemöglichkeiten von Menschen einbringen zu können, die in den sogenannten intensiv-pädagogischen Wohnbereichen leben.

Als ich vor über dreißig Jahren in der sogenannten „Behindertenhilfe“ anfing zu arbeiten, herrschten dort die Leitbilder von Fürsorge, Betreuung und stellvertretender Ausführung vor.

Man wusste, was der Andere brauchte und mühte sich redlich, ihm möglichst viele Steine aus dem Weg zu räumen, ihm Aufgaben und Tätigkeiten abzunehmen und ihm, im guten Sinne des Wortes, zu helfen.

Wir legten fest, was es zu essen gab, wohin, wenn überhaupt, in Urlaub gefahren wurde, bestellen Frisör und Fußpflege und kauften diese praktischen unkaputtbaren Pullover und Hosen ein.

Wir verwalteten das Bargeld, handelten Arzttermine aus, meldeten Betroffene für den Werkstattbesuch an, entschieden über die „Belegung“ von Zimmern, und verfügten über eine Palette von Maßnahmen zur Unterdrückung unerwünschten Verhaltens. Es störte nicht, dass die Beziehung asymmetrisch war. Wir waren ja oben und wir waren die „professionellen“ Gutmenschen.

Als dann die Einsicht reifte, dass es nicht darum geht, für jemanden etwas zu tun und ihm, aus einem Mix von Mitleid und Überbefürsorgung, möglichst alle Möglichkeiten der Selbsterfahrung und Selbstbestimmung abzunehmen, sondern dass es darum geht, Menschen zu befähigen, für sich zu sprechen, kam es zu erheblichen Diskussionen in der Kollegenschaft und nicht wenige von uns fielen in eine Sinnkrise.

Ein zentraler Impuls jener Zeit war der Gedanke des Empowerments, der im Kern nichts anderes meint, als Menschen zu ermächtigen, für sich zu sprechen.

Aber wie sollten denn die stimmlos Gemachten, wie sollten die, die fremdbestimmt heran- und aufgewachsen waren, plötzlich für sich sprechen? Da flatterten Wahlbenachrichtigungen für die Bundes-und Landtagswahlen in die Briefkästen „der Behinderten“, die man dann ab irgendwann „Bewohner“ nannte und in den Einrichtungen, gründeten sich Heim- und Werkstatträte. Und da saßen dann die gewählten Vertreter und bissen sich an den schweren Wörtern der Heimmitwirkungsverordnung die Zähne aus.

Irgendjemand entdeckte dann, dass nicht nur Treppen und Bordsteine Barrieren sein können, sondern auch die Sprache.

Mitunter machte sich in jener Zeit auch eine besondere Form des Zynismus breit. Es war als stieße man Personen, die nie in ihrem Leben schwimmen gelernt hatten, plötzlich vom Beckenrand ins Wasser.

Gönnerhaft durften sie nun mitplanschen und mitschwimmen, hatten es aber zuvor nicht gelernt. Und jeder, der dann leb- und selbstlos aus dem Becken gezogen werden musste, war dann der Beweis dafür, dass es sowieso keinen Sinn habe, das mit der Selbstermächtigung.

Das Wort von dem „Recht auf Verwahrlosung“ machte die Runde. Und es gab durchaus einige Kollegen, die nicht beides denken konnten: das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht auf Unterstützung.

Heute feiert diese Haltung übrigens eine gewisse Renaissance und wir sehen Menschen, die quasi „zwangsambulantisiert“ in ihren schicken Wohnungen ohne wirkliche Unterstützung leben. Ob sich da eine fiskalische oder eine undifferenzierte pädagogische Denkweise durchgesetzt hat, sei dahingestellt.

Das Recht auf Selbstbestimmung darf nicht vom Recht auf Unterstützung abkoppelt werden.

Selbstbestimmung ohne Unterstützung ist keine Selbstbestimmung. Im Gegenteil: Selbstbestimmung und Unterstützung gehören zusammen! Genau wie die Schwimmärmel oder der Schwimmring für den Nichtschimmer im Schwimmbecken die richtige Unterstützung ist, so ist die pädagogische Assistenz in der eigenen Wohnung das richtige Mittel für jemanden, der auf Leistungen zur Teilhabe angewiesen ist.

Es ist übrigens finanziell günstiger, auf den Bau und den Unterhalt eines separaten Beckens für Nichtschwimmer zu verzichten und stattdessen Schwimmärmel und Assistenten zu finanzieren.

Wenn dann doch die teurere Variante gewählt wird, scheint es der Kopf zu sein, der im Weg ist und der bestimmte Dinge nicht denken kann.

Es sieht doch so schön aus, wenn die kleinen da in ihrem eigenen Becken herumplanschen. Man kann am Beckenrand stehen, ein Schwätzchen halten und partiell ist man bei Bedarf zur Stelle. Die geübten Schwimmer ziehen ungestört ihre Bahnen und ärgern sich ja ohnehin schon genug über die, die einfach vom Beckenrand reinspringen.

Jetzt müssen wir sogar selber ins Wasser und stellen verdutzt fest, dass wir mit unserem beruflichen Selbstverständnis als „Beckenrandaufseher“ nicht weit kommen. Da tut man gut, sich im Streit um das „Schwimmbecken für alle“ doch etwas zurückzuhalten und erst mal abzuwarten, wie die Würfel überhaupt fallen werden. Man könnte sich ja geirrt haben. Und dann kommt sie am Ende eben doch nicht, die Inklusion…

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, solange wir Empowerment als eine Methode, die man bei Bedarf einsetzen könne, betrachten, so lange wird die Geschichte der Behindertenhilfe keine Erfolgsgeschichte werden.

Denn bei dem Empowermentansatz geht es natürlich um „Selbstermächtigung“ und um „Befähigung“ und um das „Stärken der Stärken“. Im Kern aber geht es um Befreiung. Es geht um Befreiung von Bevormundung, Befreiung von Gängelei und Fremdbestimmung. Es geht um die Befreiung von Bürokratie und Verwaltungsdenken. Und es geht auch um die Befreiung von professionellen Gutmenschen, die asymmetrische Beziehungen für ihr eigenes Ego brauchen.

Befreiung aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, „Befreiung beginnt mit Empörung!“ Dieser Satz stammt von Else Pannek, einer Hamburger Lyrikerin, die 2010 verstorben ist. „Befreiung beginnt mit Empörung“. Das will sagen, dass derjenige, der sich mit Zu- und Umständen arrangiert und sich in ihnen eingerichtet hat und der nichts verändern will, dass es für denjenigen weder einen Empörungs- noch einen Empowerungsgrund gibt.

Wenn ich die Zeitspanne von über 30 Jahren „Behindertenhilfe“ reflektiere, dann komme ich zu den Schluss, dass wirkliches Empowerment nur dann möglich ist, wenn sich der Prozess synchron vollzieht.

Oder, anders gesagt, wenn sich die Systeme der Versorgung nicht mit empowern, wenn sie statisch bleiben, dann dürfte es wohl auch nichts werden mit dem Empowerment der Betroffenen. Wir müssen uns mit empowern. Wir müssen unsere EIGENE Sprache wiederfinden, damit auch diejenigen für sich zu sprechen lernen, für die wir bisher gesprochen haben.

Damit es in der Behindertenhilfe vorangeht, braucht die Behindertenhilfe empowerte Mitarbeiter. Sie braucht Mitarbeiter, die sich empören können und den Bewohnerinnen und Bewohnern quasi zeigen, wie es geht, das „Empowern“, die sie mitnehmen auf den „Empörungsweg“.

Und: Wir müssen uns nicht nur, wir haben uns sogar zu empören! Damit diejenigen es leichter haben, die sich nicht empören können, oder deren Empörung kurzerhand als „unangepasstes Verhalten“ umgedeutet und mit Psychopharmaka „behandelt“ wird.

Meine These ist, dass die Behindertenhilfe der letzten 20 Jahre zu angepasst war und diegesellschaftspolitische Dimension ihres Auftrages vernachlässigt hat. Stattdessen haben wir uns zertifizieren lassen, das Berufsbild des „Gesundheitsökonomen“ erfunden, uns auf das sogenannten „Zwischenangebot“ eingelassen und alle Betroffenen brav „gemetzlert“.

Mir scheint, dass wir uns selbst im Wege stehen. Die uns übergeholfene Zuschreibung, dass wir selbstlose Gutmenschen seien, wird uns vermutlich nicht zuletzt auch deshalb angeheftet, damit wir erst gar nicht auf die Idee kommen, uns um mehr als „nur“ den Menschen mit Behinderungen zu kümmern.

Damit wir erst gar nicht Gesetze und Verordnungen hinterfragen und uns keine eigenen Gedanken darüber machen, was denn die tatsächlichen „Teilhabehemmer“ und „Inklusionsblockaden“ sind.

Wir sollen brav am Beckenrand stehen und den Schwimmern ihre Ruhe garantieren, indem wir die Nichtwimmer an einem anderen Ort beaufsichtigen. Genauso, wie wir Menschen, weil sie dies nicht allein können, die Strümpfe anziehen, genauso müssen wir uns, stellvertretend für die, die es allein können, empowern und empören.

Dies ist in allererster Linie die Personengruppe, die in den sogenannten ipWs und in den, man verzeihe mir diesen technokratischen Begriff, in den „Zwischenangeboten“ lebt. Hier müssen wir uns stellvertretend für sie auf den Weg der Empörung machen.

Was soll sich denn in der klassischen Behindertenhilfe eigentlich ändern, wenn wir uns nicht ändern? Und damit meine ich nicht, dass wir schnell mal die Artikel der UN-BRK auswendig lernen und unseren Webauftritt barrierearm gestalten.

Wir klagen, dass das Personal in den Wohnstätten nicht reicht und dass der Kostenträger partout nicht das zahlt, was benötigt wird und schließen dann aber doch mit ihm eine Vergütungsvereinbarung ab.

Wir klagen, dass die Personalrelationen, mit denen hier im Freistaat die Hilfebedarfsgruppen des H.M.B.-W.-Verfahrens hinterlegt sind, nicht auskömmlich sind und haben aber, als es zur Abstimmung kam, unsere Hände nicht unten gelassen.

Wir haben uns daran gewohnt, dass es eigentlich kein Gesamtplanverfahren gibt und bieten trotzdem entsprechende Dienstleistungen an. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die gesetzliche Frist, sich innerhalb von sechs Wochen auf eine neue Vergütung zu einigen, kaum eingehalten wird und warten geduldig, bis wir dann irgendwann mal an der Reihe sind.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass sich seit gut zehn Jahren im Hilfesetting für die Menschen in den intensivpädagogischen Wohnbereichen nichts bewegt. Und wir haben uns auch daran gewöhnt, dass der Hilfebedarf dieser Menschen nicht auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Konzepts ermittelt wird.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass es sachsenweit kaum noch trägerübergreifende fachliche Austauschrunden und Arbeitskreise gibt und wir haben uns auch damit abgefunden, dass die Macht in den letzten Jahren von der Elbe an die Pleiße gezogen ist.

Diese Dinge, oder besser: Die Gewöhnung an diese Dinge, fällt den Bewohnerinnen und Bewohnern insofern auf die Füße, als dass sie es deutlich schwerer haben, sich zu empowern. Ihnen fehlt quasi unser Anteil.

In Ihren Tagungsunterlagen finden Sie die „Oschatzer Erklärung“. Das ist gewiss nicht das Allheilmittel, aber doch ein erster Versuch, die Sprache zurückzuerlangen und der Fachlichkeit Gehör und Geltung zu verschaffen, quasi ein erster zarter Empower- und Empörungsschritt zur Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit schwersten Verhaltensauffälligkeiten und einer sog. „geistigen Behinderung“.

Bitte beteiligen Sie sich daran und suchen Sie unter Ihren Kolleginnen und Kollegen noch weitere Unterstützer!

Ich möchte zum Schluss kommen:

Ähnlich wie die Menschen in den Wohneinrichtungen, denen wir methodisch Hilfestellung geben, damit sie sich empowern können, müssen wir uns auch empowern.

Dieser Prozess, das ist meine Überzeugung, kann nur dann erfolgreich sein, wenn er sich im Gleichschritt vollzieht. Es reicht eben nicht aus, am Beckenrand zu stehen, und jemanden ins Wasser zu stoßen, damit er schwimmen lernt, sondern wir müssen gleichzeitig mit ihm springen.

Oder, auch das ist denkbar, wir springen als erste und locken die noch schüchtern am Beckenrand Stehenden, ebenfalls ins Wasser zu springen. Wir sind ja schon drin, also kann es so schlimm doch gar nicht sein.

Asynchron, also nach dem Motto: „Bewohner empowert Euch, aber lasst uns unverändert!“ wird es nicht gelingen, weder für die Betroffenen noch für uns. Jeden ersten Montag im Monat kann sich wohl der Heimbeirat treffen, nicht aber die „Empowermentgruppe“ der Einrichtung.

Wenn dieser Personenkreis keine Befürworter und keine Personen findet, die sich stellvertretend empowern, steht zu befürchten, dass die Inklusionskarawane vorüberzieht. Mit dem Hinweis auf die „geschlossene Unterbringung“ lässt sich das Ganze ja auch leichter begründen und es steht zu befürchten, dass es eine unausgesprochene breite Zustimmung geben könnte, die Interesse hat, doch wenigstens diese Wohnform aufrecht zu erhalten.

Es darf keinen „Rest“ in den stationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe geben. Klar ist doch: Wenn es einen „Rest“ gibt, dann ist das ganze Projekt gescheitert!

Und es muss dem Denken widersprochen werden, wonach es „selbstverständlich“ Personen geben wird, für die die „Sonderwelt Heim“ weiterhin die beste und einzig mögliche Form dergesellschaftlichen Teilhabe bleiben wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus diesem Grunde sind Tagungen wie diese so wichtig! Wir müssen uns austauschen und uns vernetzen. Hier gilt mein Dank auch noch einmal ganz besonders Carmen Badura und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die dieses Thema über Jahre immer wieder auf die Tagesordnung heben.

Wir schaffen mehr, wenn wir von dem ausgehen, was uns vereint, stat von dem, was uns unterscheidet! Es bleibt zu wünschen, dass von Oschatz ein Signal ausgeht. Fangen wir an, das zu ändern, was wir tatsächlich ändern können: Uns selbst!

Alles Weitere wird sich daraus zwangsläufig ergeben.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!



Wortbeitrag vom 03.09.2015 in Oschatz/Sachsen im Rahmen der Tagung „Eigensinn in Sachsen“. "Eigensinn in Sachsen" ist/war eine Initiative, die sich insbesondere für die Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen einsetzt, die auf der Grundlage eines gerichtlichen Beschlusses geschlossen untergebracht sind. Im Rahmen der Tagung wurde die "Oschatzer Erklärung" verabschiedet. Siehe dazu auch den Button "Sonstiges".


Zurück zur Übersicht der Vorträge und Referate