Kolumnen

Die Sache mit der schiefen Ebene


Am 19. Juli jährt sich der Tag zum 76. Mal, an dem der damalige württembergische Landesbischof, Theophil Wurm, sich in einem Schreiben an den Reichsinnenminister, Wilhelm Frick, zu den Verbrechen an den Menschen mit Behinderungen äußerte. In dem Brief findet sich folgendes Zitat: 

”Wenn die Jugend sieht, daß dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist, welche Folgerungen wird sie daraus für das Privatleben ziehen? Kann nicht jedes Rohheitsverbrechen damit begründet werden, daß für den Betreffenden die Beseitigung eines anderen von Nutzen war? Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr."

Was ist die Botschaft dieses Satzes? Wurm warnt davor, dass Dinge dann unkontrollierbar werden, wenn Tabus gebrochen und ethische Werte aufgegeben werden.

Sowas kann man natürlich kopflastig diskutieren und, sofern vorhanden, in den Ethikunterricht der zwölften Klassen verbannen.

Man kann diesen Satz aber auch als Messinstrument im Alltag nutzen und ihn etwas näher an sich ranholen. Getreu dem Motto: Wenn es nicht weh tut, dann ist es noch nicht nah genug!

Weiß jemand eine Antwort auf die Frage, was beispielsweise in einem BTHG-Entwurf eigentlich noch so alles stehen muss, ehe ihn auch diejenigen ablehnen, die sich das mit der schiefen Ebene selbst ins Stammbuch geschrieben haben?

Durch welche Brille gucken eigentlich die Menschen in Berlin und Freiburg, wenn für sie noch alles im Lot ist, während im Deutschen Institut für Menschenrechte schon längst die Seismografen ticken?

Wenn man sich vorstellt, dass die Entlastung der Kommunen auch das Münchener Erzbistum übernehmen könnte, lässt sich vermuten, wieso die Instrumente nicht überall so sensibel ausschlagen wie im Institut für Menschenrechte…

„Wo Euer Schatz ist, da ist Euer Herz“. Der Satz macht auch um professionelle Gutmenschen keinen Bogen. Und es ist zu beobachten, dass Besitz durchaus die Qualität hat, auch caritativ Daherkommende halbherzig zu machen ...

Die Proteste der Betroffenen zeigen mehr als deutlich, dass sie sich von den klassischen Wohlfahrtsverbänden nicht mehr vertreten fühlen. Wäre schön, wenn das hier und da zum Nachdenken anregen würde …

Diejenigen unter den Betroffenen, die kognitiv in der Lage sind, das BTHG in seinen Zusammenhängen und Auswirkungen zu überblicken, haben den Verbänden ihr Mandat entzogen. Sie haben sich aus den Windschatten der großen Wohlfahrtsverbände herausbegeben, ketten sich öffentlich an, sperren sich ein und kämpfen fortan an zwei Fronten.

Vermutlich tut es dabei sicher mehr weh, auch die Verbände gegen sich zu wissen, als „nur“ die Politik…

All diejenigen aber, denen es nicht gegeben ist, das BTHG zu realisieren, sind darauf angewiesen, dass Verbände für sie sprechen. Und dann kann man den Verbänden nur sagen, dass sie sich schämen* sollen, wenn sie es nicht übers halbherzige Herz bringen, sich mit denen, die von ihnen abhängig sind und ihnen vertrauen, hinter diejenigen zu stellen, denen das möglich ist und die das sind, was sie selbst nicht sind: „Experten in eigener Sache“.

Und noch ein Zitat kommt einem da in den Sinn. Adorno nämlich und sein Hinweis, dass es „kein richtiges Leben im falschen“ gibt.

Wenn der Zug, in dem Du sitzt, in die falsche Richtung fährt, dann ist der Versuch, sich dadurch zu beruhigen, dass der Speisewagen aber leckeres Bier hat, kein Trost, sondern Selbstbetrug.

Und wenn sich alle (!) einig sind, dass das BTHG in eine andere Richtung fährt als die UN-BRK, dann betrügt (sich) der, der (sich) damit beruhigt, dass er plötzlich etwas von „ICF“ und „andere Anbieter“ entdeckt …

Nochmal zum Mitschreiben: Das BTHG ist deshalb abzulehnen, weil es Menschen mit Behinderungen Rechte entzieht, zu deren Gewährung sich aber das Land in dem sie leben, mit der Unterzeichnung der UN-BRK verpflichtet hat! Da kann das Bier im Speisewagen noch so lecker schmecken...

Es ist wie bei der schiefen Ebene. Besonders verwunderlich aber ist, dass bei denjenigen, aus deren ethischer Ecke der Hinweis auf das Problem schiefer Ebenen kommt, die Seismografen schweigen.

Das nährt den Eindruck, dass Einige wohl so schief gewickelt sind, dass sie das objektiv Schräge als gerade ansehen … Ihr Frühwarnsystem scheint nicht intakt. Und es muss beileibe kein Sand sein, der sich da ins Getriebe gesetzt hat. Profaneres ist denkbar …

Meine Empfehlung nach Freiburg, Berlin und sonstwo: Setzt Euch noch mal mit dem Eingangszitat auseinander: Wie gesagt: so nah ranlassen, dass es weht tut. Sonst wird nichts draus ...


*= Zur Erinnerung: Das ist ein "Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das ... auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben." (Wikipedia) Also: Rein in den Maserati und ab zur freistehenden Badewanne, aber vorher noch die Einladung zur T4-Gedenkveranstaltung bestätigen, die übrigens nicht in Wolfsburg stattfinden wird ...


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