Zwischenruf März 2023

Das Soziale anders denken!


Am 13. Dezember 2021 wird in Karlsruhe ein Rettungswagen zu einem medizinischen Notfalleinsatz angefordert. Es muss schnell gehen. Am Ziel angekommen, zeigt sich, dass keine Parkmöglichkeit besteht. Der Rettungswagen hält also auf der Straße. Während des Notfalleinsatzes besteigt eine Frau das Führerhaus und versucht, den Rettungswagen umzuparken, weil sie sich durch das Fahrzeug behindert fühlt.

Noch so eine Geschichte?

Unterhaching am 29. Juli 2019: Dort parkt eine Anwohnerin absichtlich einen Rettungswagen zu, weil sie sich darüber ärgert, dass das Fahrzeug ihre Einfahrt blockiert.

Es stimmt etwas nicht im Sozialen Miteinander: Meine Straße! Meine Einfahrt! Was geht mich das Leid der Anderen an? Du wirst schon sehen, mit wem Du dich da gerade anlegst, Du kleiner Notarzt, Du!

Die Sache ist zu ernst und braucht eine etwas gründlichere Analyse. Da braucht es die alte Schule: Zunächst Diagnose und dann Therapie. Fehlanzeige für alle Empörungsrhetorik(er*innen) nebst Boulevard-Voyeurismus oder politisch eingefärbtem Sprech von irgendwelchen Demagog*innen, die, weil sie gern schneller reden als denken, kaum über Schwarz-Weiß hinauszukommen vermögen.

Begriffe wie „Ego-Gesellschaft“ oder „Entsolidarisierung“ geben schon mal einen ersten Anhaltspunkt hinsichtlich einer Befundbeschreibung. Der Blick für den Anderen und dessen Situation ist nachrangig. Es geht zuerst um mich.

Der Blick für den Anderen ist offensichtlich über die Jahre immer blasser geworden und die Anzeichen dafür, dass er gänzlich abhandengekommen zu sein scheint, häufen sich.

Der Befund lautet: Wir können "Sozial" nicht mehr!

Schon klar, dass sich das, um Zustimmung aus dem Publikum zu erhalten, wissenschaftlicher lesen sollte. Aber, Hand aufs Herz, da ist doch in den letzten Jahren wahrlich so viel dazu veröffentlicht worden, dass es keinen Sinn macht, diesen Befund gegen Zeitgenossen zu verteidigen, die nicht wahrhaben wollen, was sie sehen.

Wir haben das Soziale ausgelagert und professionalisiert und wissen nicht mehr, wie es geht. Es ist aus unserer Mitte verschwunden und übrig bleibt ein Notarztwagen, der die Straße blockiert und der mal eben umgeparkt wird. Me first!

Seit nun gut 150 Jahren findet Helfen vorwiegend in Einrichtungen und Diensten freier und freigemeinnütziger Träger statt. Der Zeitpunkt der Industrialisierung und des damit einhergehenden wirtschaftlichen Wohlstandes, ist auch der Zeitpunkt, an dem man das Soziale aus „der Mitte der Gesellschaft“ verbannte und Nächstenliebe zum Beruf machte.

Der Preis für ein mehr oder minder auskömmlichen Leben der Familien ist das Verschwinden des Kümmerns.

Der Homo Socialis verramscht seinen Markenkern und wird, ohne dass ihm das zunächst bewusst zu sein scheint, zum Homo Oeconomicus. Wohlstand hat eben seinen Preis. Und dass wir es selber sind, die wir uns da bereitwillig und blind auf dem Altar des Fortschritts opfern, scheint noch nicht überall angekommen zu sein.

Ja, und was von uns, den einstmals Sozialen Wesen, übrigbleibt, können wir dann abends bei der „Tagesschau“, oder auch bei Sendungen wie „Hartz-Rot-Gold“ oder dem "Dschungelcamp“ bekopfschütteln. Der mal eben umgeparkte Notarztwagen kommt auch aus dieser Denkrichtung.

Die Aufgabe, für deren Erledigung die Zeit allmählich knapp wird, lautet: Das Soziale entökonomisieren und Soziale Tätigkeiten dahin zurückverlagern, wo ihre Bedarfe entstehen: in unsere Mitte.

Vor fast genau 26 Jahren, nämlich am 22. Februar 1997, veröffentlichten die beiden Volkskirchen ihr „Sozialwort“, dem sie den Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ gaben. Man hätte ihm mehr gewünscht, als die Metamorphose vom Tiger zum Bettvorleger. Dafür, dass allein die Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozess in 400.000 gedruckten Exemplaren erschien und die gut 2.500 eingegangen Stellungnahmen einen Umfang von mehr als 25.000 Seiten hatten, ist nicht wirklich viel bei rumgekommen.

Und auch aus dem knapp 20 Jahre alten von der Katholischen Bischofskonferenz vorgelegten Papier „Das Soziale neu denken“, das den Untertitel „Für eine langfristig angelegte Reformpolitik“ trägt, ist ein niedlicher Bettvorleger geworden.

Eine Pandemie und einige tausend Missbrauchsfälle später, müssen wir schmerzlich feststellen, dass der damaligen Debatte wohl einige hundert Bäume zum Opfer gefallen sein dürften, dass es das dann aber auch schon war.

Und was, wenn es daran liegt, dass man am Splitter im Auge der Anderen mehr Anstoß genommen hat, als am Balken, der im eigenen Auge für eingeschränkte Sicht sorgt? Die Kirche, das lässt sich wohl so knapp feststellen, schafft sich ab, wenn sie noch länger einen Bogen um den Balken macht.

Was den beiden schwankenden Riesen noch einigermaßen hilft, sind Caritas und Diakonie, ihre jeweiligen Sozialkonzerne. Das sind echte Schwergewichte und so etwas wie der outgesourcte Teil der Nächstenliebe.

"Pflegebett statt Kirchenbank", um es mal in einen schlichten Merksatz zu kleiden.

Und damit sind wir wieder bei der Ökonomisierung des Sozialen. Warum werden Helfen und Kümmern zu einer quantifizierbaren Ware?

Ihr lieben Menschen, die Ihr Euch auf den beruft, der mit Sicherheit einen ihm von Euch angebotenen Vorstandsposten ausschlagen und stattdessen deutlich sagen würde, was er von Tagesgeldkonten, wirtschaftlichen Verflechtungen von Vereinen, Stiftungen, Zweckbetrieben und gemeinnützigen Gesellschaften mit beschränkter Haftung hält, lasst uns über die „Zukunft von Solidarität und Gerechtigkeit“ nach der Balken-OP noch einmal gemeinsam nachdenken.

Es gab eine Zeit, in der die Menschen für mindestens 6 Tage in der Woche  ihr Haus verlassen mussten, um Geld für den Unterhalt der Familie zu erzielen. Da war tatsächlich kaum Zeit, sich um bedürftige Familienmitglieder zu kümmern und Soziale Dienstleistungsangebote durchaus eine willkommene Hilfe.

Dass wir 150 Jahre später immer noch dieselben Bedingungen haben, wird wohl niemand ernsthaft vertreten. Warum haben wir dann aber noch dieselben Strukturen?

Wie klug ist das eigentlich, wenn Vater und Mutter zu zweit arbeiten gehen, um dann von einem Gehalt diejenigen zu bezahlen, die sich hauptamtlich um ihre Familienangehörigen kümmern?: "Es tut mir leid mein Kind, du musst jetzt in den Kindergarten, damit ich das Geld dafür verdienen kann, was uns dein Kindergartenplatz kostet. Und den Platz brauchen wir ja, weil wir arbeiten gehen und niemand zu Hause ist. Und auch der Pflegeheimplatz für Oma muss ja irgendwie bezahlt werden".

Wer daran möglichst wenig ändern will, ist in der Regel immer derjenige, der davon profitiert, dass es so ist, wie es ist.

Also wundern wir uns nicht, wenn sonntags geschwiegen wird und fangen wir an, das Soziale anders zu denken.

Das Ziel: WIR müssen "Sozial" wieder können können...!



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