Vorträge und Referate

Ambulant vor Stationär


Vielen Dank für die Einladung und dafür dass ich meine Erfahrungen, meine Vorstellungen zum Thema der Partizipation, der Teilhabe von Menschen mit Behinderung, im Freistaat Sachsen kurz vorstellen kann.

Da wir über das Wohnen – ambulant oder stationär – reden, möchte ich Ihnen mein „Wohnen“ vorstellen. Ich wohne in einem Haus, das vor 100 Jahren erbaut wurde, für das der Eigentümer öffentliche Mittel bekommen hat, weil er es denkmalgeschützt rekonstruiert hat. In diesem Haus kann ich nicht alt werden. Dieses Haus hat eine Wendeltreppe und erfordert von mir, dass ich es eines Tages verlassen muss.

Da taucht die erste Frage auf, die sich durch das gesamte Thema zieht: Warum bauen wir Häuser, in denen Menschen nicht so leben können, wie das menschliche Leben sich darstellt?

Wir leiden unter dem Umstand der „Verheimung“, das heißt: ein Prozent der Bevölkerung, in Dresden sind das 5.000 Menschen, lebt in Heimen. Wie viele von ihnen mussten ausziehen, weil die baulichen Bedingungen unzureichend waren?

Grundsätzlich müssten wir über soziale Standards im Bereich des Bauens nachdenken. Wir haben ökologische Standards. Ich muss, wenn ich meine Garageneinfahrt pflastere, so dass das Regenwasser nicht mehr abfließen kann, eine Abgabe zahlen. Wo ist der, der eine Abgabe zahlen muss, weil er diese komische Wendeltreppe eingebaut hat?

Wir haben ein ökologisches Bewusstsein entwickelt, nun ist es an der Zeit, ein soziales zu entwickeln. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche soziale Bedürfnisse hat.

Meinen Einweisungsgrund in ein Heim habe ich Ihnen genannt, und wenn Sie durch Ihre Wohnung gehen, dann werden Sie sicherlich auch „Heimeinweisungsgründe“ finden. Deshalb ist diese Frage zu wichtig, als dass sie nur in Fachgremien diskutiert werden sollte!

Die bundesweite Studie „Leben im Heim“ von 1998 fragte unter anderem, warum Menschen mit Behinderungen im Heim wohnten. Der Hauptgrund ist nicht die körperliche oder geistige Behinderung an sich, sondern dass die Betreuung durch die Eltern nicht mehr möglich ist.

Ich bin Leiter einer Einrichtung und erlebe oft, dass Eltern kommen und fragen, ob sie nicht einen Heimplatz für ihr Kind bekommen könnten, denn der Vater ist auf Montage und nur an den Wochenenden zu Hause und die Mutter hat schon den zweiten Bandscheibenvorfall und es geht nicht mehr. Hier müsste unser Ansatz sein und wir sollten fragen: Was können Sie aufgrund Ihres Bandscheibenvorfalls nicht mehr tun und wobei können wir Ihnen jetzt helfen?

Der zweithäufigste genannte Grund für eine Einweisung in ein Heim war laut Studie, dass ein selbständiges Wohnen nicht mehr möglich ist. Der dritte Grund bestand in einem Umzug. Der Bewohner, der schon im Heim gelebt hatte, wechselte nur das Heim. Der vierte Grund war die Unterstützung zur Erlangung der Selbständigkeit. Erst an vierter Stelle taucht das auf!

Wir sollen, das steht auf der Liste ganz oben, das Elternhaus ersetzen. Der vorletzte Grund ist die altersgemäße Ablösung. Interessanterweise scheint das gar keine vordergründige Rolle zu spielen.

Für sehr bedenklich halte ich, dass der an allerletzter Stelle stehende Grund der Wunsch des Betroffenen selbst ist. Pointiert gesagt hieße das: „Die meisten Menschen sind offensichtlich gegen ihren Willen im Heim.“

Das soziale Umfeld hat eine Heimeinweisung entschieden und nicht der Behinderte, der meinte, er schaue sich jetzt erstmal alle Heime in Dresden an und danach sage er Mama und Papa, wo er wohnen wolle.  Das scheint in der Realität überhaupt nicht der Fall zu sein.

Daran anschließend möchte ich eine Schlussfolgerung wagen: Es gibt keine heimpflichtige Behinderung. Es ist eben nicht so, dass jemand der Mutter schon kurz nach der Geburt empfiehlt, ihr Kind in ein Heim zu geben, denn nur dort gäbe es Fachleute. So ist es nicht! Es gibt keine Behinderung, die von vornherein nur im Heim betreut und versorgt werden kann.

Das ist auch anhand der vorhin aufgezählten Gründe logisch zu erkennen.

Es ist eher so, dass wir als Heimbetreiber und -träger eine gesellschaftspolitische Funktion erfüllen. Es ist weniger eine Aufgabe, die sich aus der Behinderung und den Wünschen der Betroffenen ergibt. Es steht eindeutig der Versorgungscharakter der Einrichtung im Vordergrund.

Das Heim soll etwas ersetzen. Etwas, das zuvor als Zuhause funktionierte und das jetzt nicht mehr geht. Wenn die Frage, ob und warum Menschen im Heim leben, keine Frage der fachlichen Inhalte ist, dann schlussfolgere ich, dass es nur eine gesellschaftspolitische Frage ist. Wir nehmen in der Bevölkerung eher eine gesellschaftspolitische Funktion ein. Wir bedienen Wünsche, die nicht von den Betroffenen selbst kommen, sondern aus deren Umfeld.

Eine weitere Schlussfolgerung sehe ich – auch wenn es für viele vielleicht unangenehm ist – in der Verantwortung der Stadt für die Bürger mit Behinderung. Rein statistisch ist jeder 10. Bürger schwerbehindert. Die Kommune hat im Sinne der allgemeinen Daseinsvorsorge die Verantwortung für die Bürger zu übernehmen, sich Gedanken zu machen und auch für jeden 10. Bürger Angebote zu entwickeln.

Wir sprechen von Teilhabe und von Integration, und es ist einfacher, logischer und folgerichtiger, wenn die Stadt das selbst macht. Alles andere schafft Doppelstrukturen: Sie und ich wohnen, die Behinderten wohnen. Die Mitarbeiter der Einrichtung arbeiten unter der großen Überschrift der Integration und Eingliederung. Das könnte man aufweichen.

Momentan werden in Dresden Prämien für den Ab- und Rückbau von Wohnraum gezahlt. Hier müsste man nur zwei und zwei zusammenzählen und überlegen, denn wenn wir als Heim eine gesellschaftspolitische Stellung einnehmen, dann sollte auch die Kommune wesentlich stärker ihrer Pflicht gegenüber den Bürgern mit Behinderung nachkommen.

Im Jahr 1939 haben wir Polen überfallen und heute noch fragen sich die polnischen Bürger, ob sie uns Deutschen wieder trauen können.

Wir haben zu dieser Zeit ebenso behinderte Menschen gequält und umgebracht. Am 8. Mai 1945 haben wir die weiße Fahne gehoben und am 9. Mai wieder die Heime geöffnet und gefüllt.

Es gab bis heute keinen Zeitpunkt in der Geschichte, wo wir die Behinderten fragten, ob sie uns wieder vertrauen wollen und können, ob sie uns wieder für sich sorgen lassen wollen.

Hören wir auf den Menschen mit einer Behinderung? Beachten wir, was er braucht und möchte, und wie sehr er uns vertraut? Behinderte Menschen haben das Recht, uns zu misstrauen. Dies umso mehr wir uns eher an den Wünschen der Umwelt und der Gesellschaft orientieren als an ihren eigenen.

Schauen Sie sich die Reihenfolge der Gründe für eine stationäre Heimunterbringung an! Es ist nicht unsere fachlich-hochwertige Dienstleistung, nach der der Behinderte fragt. Danach schaut vorwiegend das Umfeld. Die Aussöhnung mit uns und den Menschen mit Behinderung ist noch nicht vollzogen. Der Prozess der Annäherung steht noch aus. Als logische Konsequenz der angeführten Punkte müsste man folgern, dass alle Heime abgeschafft werden sollten. Zum einen, damit sich nicht das wiederholt, was geschehen ist und andererseits, weil wir geschichtlich nicht belegen können, dass man in den Heimen am sichersten lebt.

Wir sollten auch darüber nachdenken, wie wir unsere sozialen Bedürfnisse und Pflichten finanzieren. Solange es im ökonomischen Kreislauf bleibt, wird es uns nicht gut gehen. Das Soziale begründet sich nicht aus der Ökonomie, sondern aus sich selbst heraus! Wenn eine Person Hilfe benötigt, frage ich nicht, ob sie versichert ist und was mich die Hilfe kostet oder was ich dafür bekommen werde, sondern ich helfe einfach. Wir professionalisieren und „verpreislichen“ Pflege und Hilfsleistungen an unseren Bedürftigen. Da sollten wir umdenken, da es sonst allen nicht gut gehen wird.

Bis zum Einzug in ein Heim hat jeder Mensch gezeigt, dass er auch ohne Heim leben kann. Wenn wir wissen, dass die Person auch ohne stationäre Unterbringung hat leben können, dann sollte man fragen, wie zielgerichtet wir im Heim arbeiten können.

Ohne dieses Thema vertiefen zu wollen, möchte ich bemerken, dass niemand im Heim geboren wird, sondern die Menschen kommen in ein Heim. Aber bis zum Tag des Einzugs in ein Heim haben sie bewiesen, dass sie ohne Heim leben können.

 

Statement gehalten am 08. Februar 2006 auf Einladung der SPD-Landtagsfraktion, die zu einer Veranstaltung unter dem Motto "Ambulant vor Stationär“ eingeladen hatte.

Und weil er nach so vielen Jahren immer noch aktuell ist, habe ich ihn hier eingestellt...


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