Kolumnen

Alles auf Anfang


Mit der Verpflichtung zur Inklusion hat sich Deutschland, zumindest auf dem Papier, von der Hilfe für Menschen mit Behinderungen verabschiedet, die dazu Besonderung benötigt.

Eigentlich ganz einfach. Aber wenn man mehr als hundert Jahre an der Schaffung und dem Erhalt solcher Strukturen gearbeitet hat, dann macht es allenthalben Probleme, wenn irgendwer den Reset-Knopf drückt.

Wie war es eigentlich vor der Besonderung? Und was führte zum Aufbau von Parallelwelten?

Die Entstehung der (modernen) Sozialen Arbeit vollzog sich parallel als Folge der  Industrialisierung. Bis dahin fand die Ausübung eines Berufes/ einer Tätigkeit überwiegend in der eigenen Häuslichkeit statt.

Man arbeitete dort, wo man lebte und war dadurch in der Lage, im Bedarfsfall auch bedürftige Familienangehörige versorgen und/ oder pflegen zu können. Alles fand unter einem Dach statt.

Mit der Industriealisierung entkoppelten sich die Lebensbereiche „Wohnen“ und „Arbeit“. Man verließ seine Wohnung, um in den überall entstehenden großen Fabriken zu arbeiten. Plötzlich war es nicht mehr ohne Weiteres möglich, sich um auf Zuwendung angewiesene (Pflege, Betreuung) Familienangehörige zu kümmern.

So entstanden parallel zu den großen kommerziellen Fabriken auch „Hilfefabriken“, die man „Anstalten“ nannte. Das Helfen wurde ausgelagert, Fachlichkeit an einen Ort konzentriert/ stationiert und so Familien von der Aufgabe der Fürsorge entlastet. Die Geburtsstunde der Industrialisierung ist die Geburtsstunde der Besonderung, wie wir sie heute noch kennen.

Menschen, die auf Hilfe angewiesen waren, mussten, wenn sie Hilfe in Anspruch nehmen wollten, ihr Zuhause verlassen. Das Schicksal von Entwurzelung und der Verlust sozialer Beziehungen schien dabei das kleinere Übel zu sein.

Als dann von den Anstalten auch Förderung, Bildung und Beschäftigung angeboten wurden, schien alles irgendwie perfekt. Besser versorgt sein konnte man nicht.

Und bis auf die Betroffenen gab es eigentlich nur Gewinner: Die Familien waren nicht mit Fürsorge beschäftigt, konnten ihre Kraft und Gesundheit nahezu uneingeschränkt den Fabrikbesitzern zur Verfügung stellen, halfen, deren Reichtum zu mehren und sicherten sich selber ihre wirtschaftliche Existenz, während die Anstaltsdirektoren in aller Ruhe ihr Hilfesystem ausdifferenzieren konnten.

Dann kam die Zeit als man, nicht zuletzt auch aus Kostengründen, mit der Besonderung gleichzeitig auch selektierte und festlegte, welches Leben lebenswert und welches nicht lebenswert sei. Die Vorstufe der Aussonderung, die das massenweise Töten von Menschen mit Behinderungen zur Folge hatte, war die Besonderung.

Es dauerte dann doch noch einige Jahre, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass es um den Rechtsanspruch von Menschen mit Behinderungen auf gesellschaftliche Eingliederung und den Abbau von Barrieren geht.  „Ambulant vor stationär!“ lautete das neue Schlagwort.

In der Folge kam es zur Auflösung größerer Anstalten und man besann sich auf das, was vor der Besonderung selbstverständlich war: Den Sozialraum. Menschen in Heimen wurden plötzlich wieder als Personen mit einer eigenen Geschichte wahrgenommen und Konzeptansätze wie „Biografiearbeit“ und „Individuelle Zukunftsplanung“ machten die Runde.

Verlorengegangene Begriffe und Ansätze des Helfens mussten mühsam zurückerobert werden und das in den Sonderwelten entstandene Fach- und Expertenwissen musste in die Fläche, damit diejenigen, die nun ebenfalls in die Fläche zogen, überall aufgenommen werden und ihren Platz finden konnten.

Wir haben unseren Politikern zu danken, dass sie mit der Unterzeichnung der UN-BRK definitiv das Ende der Besonderung eingeleitet haben. Jetzt braucht es nur noch den Mut der Politik, auch diejenigen, die sich sperren und außer netten Phrasen nichts beisteuern, zu sanktionieren.

Das Trennen der Fach- von den existenzsichernden Leistungen, wie es nun mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) kommen wird, ist quasi der Treuetest, um herauszufinden, ob insbesondere große Träger auch zu großen Taten bereit sind.

Die Behindertenhilfe braucht ein neues berufliches Selbstverständnis für die Zeit nach der Besonderung. Die neue alte Behindertenhilfe, diejenige, die keine Häuser, Einrichtungen und Sonderwelten mehr braucht, sucht Betroffene da auf, wo sie wohnen. Sie verzahnt sich mit denjenigen, die in den einzelnen Teilhabebereichen Wohnen (= Wohnungsgenossenschaften, Wohnungswirtschaft,…), Arbeit (Handwerkskammern, IHK,…), Bildung (Kultus, Volkshochschulen,…) und Freizeit (Kommunen,…) eine Expertise haben.  

Sie weiß, dass sie dann einen guten Job gemacht hat, wenn sie erfolgreich win-win Beziehungen arrangiert hat. Sie öffnet Türen, unterstützt Betroffene, berät und befähigt Personen des Umfeldes.

Die neue Behindertenhilfe befreit sich von dem, was sie daran hindert, sich neu denken und aufstellen zu können und verzichtet konsequent auf Sonderwelten und Besonderung.

Die neue Behindertenhilfe kooperiert und vernetzt und macht mit den Begriffen von Sozialraum und Quartier endlich ernst. Sie diskutiert die Frage, wofür es Fachkräfte braucht und wofür nicht. Und sie hat keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum Helfen überhaupt Geld kosten muss.

Es geht darum, Nachbarschaften zu entwickeln und Türen zu öffnen. Übrigens, in der Zeit, als die Industriealisierung losging, gab es nicht nur diejenigen, die große Anstalten bauten und betrieben. Es gab damals auch schon Leute, die davon überzeugt waren, dass die Hilfe zu den Menschen kommen müsse.

Anhänger dieser Idee zogen bewusst in besonders schwierige Gegenden, die wir heute „Sozialer Brennpunkt“ oder als „No-Go-Area“ bezeichnen würden, öffneten ihre Häuser, luden ihre Nachbarn ein und kümmerten sich um sie.  

Wer mit der Besonderung Schluss machen will, der muss das Helfen in die Wohnungen und Quartiere zurückbringen und es wieder ans Wohnen koppeln. Hier kommt dem Staat eine besondere Aufgabe zu, der Wohnraum nicht zum Gegenstand von Spekulation geldgeiler Anleger verkommen lassen darf! Wohnen ist Menschenrecht.

Ökologische Standards haben wir mittlerweile verinnerlicht, dämmen unsere Wände und schmücken unsere Dächer mit Solaranlagen. Was fehlt, sind Soziale Standards. Das ist mehr als Barrierefreiheit. Da geht es um den Einsatz intelligenter Haustechnik ebenso wie  um Fragen von Sozialraum und Quartier.

Es geht um die Wiederbelegung von Nachbarschaft und darum, das Soziale niederschwellig anzusiedeln um zu vermeiden, dass sich das wiederholt, womit alles begann: Mit dem Inkaufnehmen von Entwurzelung von Menschen, für die ein "Sorgeauftrag" besteht, nur um möglichst störungsfrei dem Kapital zur Verfügung stehen zu können.


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