Zwischenruf August 2024
Sozialwort der Kirchen verzweifelt gesucht! - Ein Wutbeitrag
Liebe Verantwortliche der beiden großen Volkskirchen,
nachdem Ihr Euren Markenkern, nämlich die Zugewandtheit zum Bedürftigen, unter den Namen „Diakonie“ bzw. „Caritas“ in geschäftlich erfolgreiche Tochterunternehmen ausgegliedert habt, ist es still um Euch und Eure von Schwund und Missbrauch geplagten Institutionen geworden; wenn man von den jüngsten Aufregungen im Zusammenhang mit der Eröffnungsshow der Olympischen Spiele in Paris einmal absieht.
Euer letztes Sozialwort ist zehn Jahre alt und wesentlich schmaler als das von 1997. Aber statt eine gesellschaftliche Debatte zu den brennenden Sozialthemen anzuschieben und Euren Hut in den Ring zu werfen, befasst Ihr Euch mit Fragen von Kirchenmitgliedschaft auf Zeit, organisiert Gottesdienste für Tiere und duldet Personen in Euren Reihen, die durch eine höchst eigenwillige Interpretation des Bibelverses, "Lasset die Kindlein zu mir kommen" sogar der Justiz auffallen.
Da darf man sich nicht wundern, dass der ADAC mittlerweilemehr Mitglieder als die katholische Kirche hat, oder?
Ja, das sieht gar nicht gut aus und so bleibt kaum etwas anderes übrig, als die Verzweiflung in die eigenen Hände zu nehmen, sich an den Computer zu setzen und diesen Text zu schreiben.
Die Soziale Frage? Ja, da geht es um uns und wie wir mit dem umgehen, was uns kennzeichnet: Es geht um Krisen, um Krankheit und Behinderung, um Pflegebedürftigkeit und Einsamkeit. Es geht um Erziehung, Gerechtigkeit, Armut und Reichtum, um Bildung und Rente, es geht um Geburt, Sterben und Tod. Und dass diese Aufzählung nicht abschließend ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass das Leben komplex ist.
Es ist höchst befremdlich, dass Euch, die Ihr für eine solche Debatte prädestiniert seid, dazu nichts einfällt und Ihr durch beharrliches Schweigen auffallt.
Was soll denn noch passieren? Wollt Ihr wirklich den blau-braunen Rattenfänger*innen das Feld und die Menschen überlassen? So konsequent am eigenen Bedeutungsverlust arbeitet ja noch nicht einmal die Deutsche Bahn! Wenn schon niemand mehr Sonntags zu Euch kommt, dann könntet ihr doch wenigstens von Euch aus zu den Menschen gehen. Nur weil sie nicht mehr in den Kirchenbänken sitzen, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht mehr da sind, oder uninteressiert an dem wären, was Ihr zu sagen hättet.
Sie sind ja nicht nicht da, weil Ihr ihnen egal seid, sondern weil sie das Gefühl haben, dass sie Euch egal sind. Oder welche Reaktion auf tausendfachen Missbrauch und die Verhinderung der Aufklärung ist Euch genehm?
Ihr habt die Nächstenliebe professionalisiert und in profitable Gesellschaften, Stiftungen und sonstige Rechtskonstrukte überführt und wundert Euch, dass die Menschen anderswo Sinnerfahrung suchen. Je sozial inkompetenter die Mitglieder einer Gesellschaft, desto besser für die Sozialprofis und ihre durchgestylten Leistungsangebote.
Wie kann der Mensch aber von Bedeutung für andere Menschen sein, wenn seine sozialen Fähigkeiten nicht gefördert und entwickelt werden, weil es für alle möglichen Bedarfslagen zunehmend professionelle Hilfsangebote
gibt?
Und: welche Bedeutung kann Kirche noch haben, wenn sie die Nächstenliebe ausgegründet und kommerzialisiert hat?
Als sich damals, im Schatten der Industrialisierung, die großen kirchlichen Anstalten gründeten, geschah dies auch, um die Familien von sozialen Sorgeaufgaben zu entlasten. Die durch die "tätige Nächstenliebe" entlasteten Familien standen damit uneingeschränkt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Es ist zu einseitig, wenn man das ausschließlich als eine Erfolgsgeschichte betrachtet!
Was ist, wenn es einen Zusammenhang zwischen dem gewerbsmäßigen Ausbau professioneller sozialer Dienstleistungen und dem Verschwinden sozialer Kompetenzen in der Fläche gibt?
Sind die Bedingungen von vor gut 150 Jahren noch dieselben wie heute? Müssen Familien immer noch entlastet oder nicht eher gestärkt werden? Wie aber kann das gelingen und wo ist eigentlich die Gemeindeschwester geblieben, die früher auf dem Weg zu Familie Schulze noch bei Familie Meier vorbeischaute?
Es gäbe durchaus Aufgaben und Betätigungsmöglichkeiten für die örtliche Kirchengemeinde, wenn man denn noch mal eben kurz im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte vorbeischauen würde. Woher kommt das eigentlich, dass man sich immer für die Lösung, nie aber für das Problem hält?
Wir Menschen möchten, dass die Hilfen, die wir benötigen, zu uns kommen. Die sozusagen unmenschlichere Hilfe ist die, die unsere Entwurzelung voraussetzt. Das aber ist genau die Hilfe, die Ihr tagtäglich tausendfach anbietet. Warum eigentlich?
Ohne kritische Fragen wird sich nichts ändern. Und auch Hermann Hesse wusste schon: „Manch einer hält sich für vollkommen, nur, weil er geringere Ansprüche an sich stellt“.
Wie heißt es im ‘97er Sozialwort so treffend?: „Es genügt nicht, wenn die Kirchen die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und die Verhaltensweisen der darin tätigen Menschen thematisieren. Sie müssen auch ihr eigenes Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken. Das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirkt um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet.“
Ich nehme Euch übel, dass Ihr stumm seid, obwohl unsere Gesellschaft einen breiten Diskurs zu sozialen Themen dringend braucht!
Klar ist: Wenn es so bleibt wie es ist, wird es nicht so bleiben wie es ist, sondern sich weiter verschlimmern und dann werden die auf den Zug aufspringen, die mit einfachen Antworten Fakten schaffen, die Euch genauso wehtun werden wie uns. Das allerdings kann man sehenden Auges und glaubenden Herzens nicht wollen.
Euer Schweigen schadet! Uns. Und Euch.
Amen.