Kolumnen

Politischer werden!


Seit gut sechs Wochen leben wir jetzt schon mit dem umstrittenen Bundesteilhabegesetz (BTHG), das seine Wirkung in mehreren Stufen entfalten wird und in seinen Konsequenzen heute noch nicht abschließend zu erfassen ist.

Da kommt also etwas homöopathisch dosiert daher und soll, der besseren Verträglichkeit wegen, zwischendurch wissenschaftlich evaluiert werden. Als sei Politik wissenschaftsaffin und jederzeit gern bereit, sich durch studierte Schlaumeier korrigieren zu lassen.

Die Notwendigkeit zur Reform der Eingliederungshilfe ist jedoch nicht wissenschaftlich sondern ökonomisch begründet. Zur Geschmacksneutralisierung ist dann noch ein wenig UN-BRK-Lyrik dazugekommen. Das ist alles.

Wer weder auf Betroffene, auf Experten noch auf das Deutsche Institut für Menschenrechte wirklich hört, der wird sich hinterher wohl kaum von Wissenschaftlern umstimmen lassen, die er selber beauftragt hat. Der aufgeweckte Zeitgenosse hat schon zu oft beobachten dürfen, was (politische) Macht mit Menschen macht und jeder von uns kennt den ein oder anderenBettvorleger aus der Zeit, als der noch ein Tiger war. 

Die Politik, so hat es der letzte Herbst gezeigt, reagiert, wenn man sich öffentlich einmischt, wenn man den direkten Kontakt und das Gespräch mit ihr sucht, wenn man öffentlichkeitswirksame Bilder produziert, wenn man Petitionen auf den Weg bringt, wenn man sich das Maul nicht verbieten lässt und zu Streitgesprächen herausfordert. Eine wissenschaftliche Studie über die Bedeutung Sozialer Teilhabe kannst Du ruhig zu Hause liegen lassen, damit kriegst Du das politische Berlin nicht wachgerüttelt!

Auch der Appell an ethische Werte und Normen oder das stoische Wiederholen von Slogans und Parolen („Nichts über uns ohne uns!“, „Inklusion beginnt im Kopf!“) kann man sich schenken. Politik versteht nur eine Sprache, und das ist die der Politik. Woraus die besteht? Aus Eitelkeit, Macht, Mehrheiten, Koalitionen, Allianzen und Kompromissen.

Zur Erinnerung sei an das Abstimmungsverhalten der Grünen erinnert, die ganz offensichtlich sowohl eine fachliche als auch eine politische Meinung zum BTHG hatten und die sich dann für ihre politische entschieden. Ein L(e)e(h)rstück in jeder Hinsicht! Und wenn wir am 24. September in der Wahlkabine stehen, dürfen wir uns ruhig daran erinnern.

Was Menschen mit Behinderungen eint, ist nicht die individuelle Beeinträchtigung, ist nicht das Behindertsein, sondern das Behindertwerden.

Selbstverständlich ist es gut und richtig, wenn sich Personen treffen, deren verbindendes Thema beispielsweise eine gleiche Beeinträchtigung ist. Da sitzt man zusammen, tauscht sich zur spezifischen Lebenssituation, die aus dem Handicap resultiert, aus und sucht für sein Anliegen

Zugänge zur Öffentlichkeit.

Das machen die ertaubten Menschen, die Menschen mit Muskelschwund, die Menschen mit Psychiatrieerfahrung und alle anderen auch. Schön nach Beeinträchtigung getrennt ist jeder für sich mit den jeweils daraus resultierenden Angelegenheiten unterwegs. Das ist gut und das ist richtig, aber für die großen Themen nicht ausreichend.

Und auch jenseits von Behinderung treffen sich die Opel-Corsa-Freunde genauso wie die Bulli-Fahrer oder die BMW-Enthusiasten. Da wird gefachsimpelt, geschraubt, gewienert und geprotzt, während man sich auf der Straße argwöhnisch beäugt und seinen Nebenmann an der roten Ampel am liebsten zu einem kleinen Sprint provozieren möchte.

Wenn es aber um die Frage geht, ob denn nun in Deutschland eine Autobahnmaut auch für PKW eingeführt werden soll, dann ist es plötzlich egal, welches Auto man fährt.

Je größer eine Gruppe ist, die sich auf den kleinsten gemeinsame Nenner verständigt, desto mehr Kraft kann sie entfalten. Dieser kleinste gemeinsame Nenner im Bereich der Behindertenbewegung ist das kollektive Erleben des gesellschaftlichen Behindertwerdens.

Der geeinte Auftritt all derer, die Furcht vor dem BTHG und einer weiteren Zunahme des Behindertwerdens hatten, erklärt, warum dann das BTHG am Ende nicht ganz so schlimm wurde, wie es eigentlich sein sollte.

Die einzelnen Menschen mit Behinderung müssen sich als Bewegung zusammenfinden undgemeinsam politisch aktiv werden, sonst wird nichts!! Das Behindertwerden gehört in den Mittelpunkt.

Wie wäre es mit einer „Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Politik“, einem Netzwerk oder einem Aktionsbündnis, in dem explizit das Thema des kollektiven Behindertwerdens dominiert?

Da werden Kontaktdaten von Abgeordneten gesammelt, Sitzungskalender gesichtet, Ausschüsse und deren Mitglieder aufgelistet, Gespräche in den Wahlkreisbüros geführt und zu politischen Stammtischen eingeladen. Da werden Petitionen auf dem Weg gebracht, Aktionen koordiniert, der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung vor dem Verkümmern bewahrt und die Kontakte zu den sozial- und behindertenpolitischen Sprechern der Parteien gepflegt.

In Deutschland gibt es bedauerlicherweise keine kontinuierlich politisch aktive Behindertenbewegung. Ihre „Blütezeit“ liegt schon mehr als 30 Jahre zurück. Und die Aktion von Franz Christoph, dem „zornigen Krüppel“ (Die ZEIT), der dem damaligen Bundespräsidenten Carstens zweimal mit der Krücke schlug, fand 1981 statt.

Es braucht wieder die Besetzung des politischen Raumes, das ist die klare Botschaft der letzten Monate. Fachfragen, wie denn Teilhabe im Arbeitsleben geht und wie man sie überhaupt misst, welches Verfahren zur Hilfebedarfserfassung geeignet ist, wie man Sonderwelten abschafft oder Restlaufzeiten für Heime umsetzt, das sind Felder, die eher ablenken und die, wen wundert‘s, auch von der Politik nicht aktiv besetzt werden.

Um politisch ernstgenommen zu werden, sind Themen zu finden, die alle Menschen mit Behinderung gleichermaßen betreffen. Als Steilvorlage bietet sich die offensichtliche Beugung der Menschenrechte durch das BTHG an.

Den Rechtsanspruch auf Teilhabe unter Mehrkostenvorbehalt zu stellen, geht gar nicht, oder?

Und so zu tun als sei BTHG-Teilhabe identisch mit PSG-Teilhabe, muss mobilisieren! Auf regionaler Ebene sind es die Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK, die zur politischen Auseinandersetzung einladen…

Ja, es braucht Köpfe, die sich den Hut aufsetzen und deren Zorn so groß ist, dass er Mut und Phantasie freisetzt und sie sich erkenn- und identifizierbar einmischen. Es braucht Strukturen, Vernetzungen und Netzwerke und die kluge Nutzung der Sozialen Medien. Es braucht die Verständigung auf gemeinsame Ziele. Es braucht eine Sammelstelle, die Beispiele, was das BTHG in der Praxis macht, entgegennimmt, juristisch prüft und zielgerichtet veröffentlicht.

Es braucht einen kontinuierlichen Austausch mit den politisch Verantwortlichen auf der kommunalen Ebene, genauso wie auf Bundesebene. Und es braucht eine öffentliche Herausforderung der Behindertenbeauftragten und der großen etablierten Verbände, damit deutlich wird, wo sie stehen, ob man sich auf sie verlassen kann, ob sie Beförderer oder Verhinderer einer menschenrechtskonformen Teilhabe sind oder nicht.

Weil Fachfragen nicht als Fach- sondern als politische Fragen Eingang in die Gesetzgebung finden, ist die politische Auseinandersetzung angesagt. In der deutschen Behindertenhilfe besteht schon seit Jahren kein Wissens- sondern ein Umsetzungsdefizit. Und dass das so ist, ist politisch gewollt…

Deshalb muss sie sich neu aufstellen und endlich (wieder) politischer werden, die deutsche Behindertenbewegung!!


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