Zwischenruf Dezember 2024
Die "Kita-strophe"
Dass es bundesweit im Kita-Bereich nicht gut aussieht, hat sich herumgesprochen und Meldungen zu fehlenden Fachkräften, ausgebrannten Erzieher:innen oder fehlenden Kitaplätzen erreichen immer wieder auch überregionale Aufmerksamkeit. Keine Frage, dass die Situation in vielen Kitas prekär ist und dass wir hier ein gesamtgesellschaftliches Problem vor uns haben, das nicht ohne weiteres, von wem auch immer, zu lösen ist.
Da lässt dann doch die Idee der Bremer Bildungssenatorin Sascha Aulepp (SPD) aufhorchen, die vorschlägt, zur Abmilderung des Fachkräftemangels auch Menschen ohne pädagogische Qualifikation in den Kitas zu beschäftigen. Dass sie damit Entrüstung und Widerspruch ernten würde, war vorhersehbar. Und sie dürfte sie durchaus in Kauf genommen haben. Warum also dieser Vorschlag?
An der „Kita-strophe“ wird exemplarisch sichtbar, was dem ganzen Sozialbereich bevorsteht: Nämlich Entscheidungen zu der Frage, ob man im quantitativen oder im qualitativen Bereich Einschränkungen vornimmt. Im Grunde liest es sich einfach: Die Kapazitäten halten und dafür Menschen ohne fachliche Ausbildung beschäftigen, oder Kapazitäten abbauen und dafür die Fachkraftvorgaben erfüllen
Im Gegensatz zu nahezu allen Bereichen innerhalb der Sozialen Arbeit hat der Kita-Bereich ein besonderes Standing und generiert eine öffentliche Wahrnehmung, wie sie der Behindertenbereich noch nicht einmal zum Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen erreicht. Auch deshalb ist es gut, das Geschehen im Kita-Bereich genau zu beobachten.
Denn es gibt auch Gemeinsamkeiten: So dürften die Ergebnisse, wenn man Kinder fragt, ob sie in die Kita wollen, ähnlich sein wie jene, wenn man Menschen mit Behinderungen fragt, ob sie in ein Wohnheim oder in eine Werkstatt möchten. Wenn es dann doch gegen den Willen der Betroffenen geschieht, lässt sich eigentlich nur folgern, dass es so etwas wie „übergeordnete Interessen“ zu geben scheint, die stärker zählen, als die Wünsche der Betroffenen.
An Kitas haben Unternehmen und Eltern gleichermaßen ein Interesse. Ein möglicher Fachkräftemangel gefährdet Unternehmen, so war vor einigen Wochen in der ZEIT zu lesen. Und dann kann man nach Überwinden der Bezahlschranke lesen, wie wirtschaftlich bedrohlich es für Unternehmen ist, wenn sie Personal nicht fest planen und einsetzen können, weil es plötzlich zu Hause mit Sorgeaufgaben, die es doch eigentlich ausgelagert hatte. betraut ist.
Wer in einer Kita tätig ist, kann also gern einmal darüber nachdenken, wem sein Einsatz so alles zugutekommt. Und weil das so existenziell ist, hat man sich in Bremen, der Logik des Marktes folgend, dafür entschieden, Quantität über Qualität zu stellen.
Wer hat an Behindertenheimen und -werkstätten ein Interesse? Auch hier muss es so etwas wie „übergeordnete Interessen“ geben. Und tatsächlich: Da sind Angehörige, die oftmals dann doch ein Heim einer angemieteten Wohnung vorziehen, da sind die Betreiber von Heimen und Werkstätten, die mit „Inklusion“ Geld machen und da ist die Politik, die sich irgendwo im Wirrwarr von gesetzlichem Auftrag, eigenem Anspruch und der Wirklichkeit verheddert zu haben scheint. Und auch die Kostenträger verhandeln lieber an einem Tag mit einem Anbieter einen einheitlichen Kostensatz für die Bewohner und Bewohnerinnen einer Wohnstätte, als mit jeden einzelnen Anspruchsberechtigten direkt.
Auch hier kann es nicht schaden, mal darüber nachzudenken, wem man eigentlich alles eine Freude macht, wenn man Sonntagmorgen zum Frühdienst in die Wohnstätte fährt. In der Eingliederungshilfe ist der Kampf etwas zäher, aber die Notwendigkeit, sich irgendwie zwischen Quantität oder Qualität entscheiden zu müssen, besteht auch hier.
Und plötzlich taucht eine vernachlässigte Frage aus den Neunzigern wieder auf: Wie misst man eigentlich in der Sozialen Arbeit Qualität? Bescheren gute Rahmenbedingungen auch eine gute Qualität? Wenn ja, welche Indikatoren gehören dazu? Wer definiert eigentlich Qualität?
Klar ist, dass die praktizierte Gepflogenheit, Qualifikation mit Qualität gleichzusetzen, einer belastbaren wissenschaftlichen Unterfütterung bedarf: Welche Tätigkeit ist an welche Qualifikation gebunden; und woraus begründet sich das?
Sind Kinder, die in Kitas von 100 Prozent Fachkräften betreut werden, glücklicher, kreativer und sozial kompetenter als Kinder, die "nur" von 50% Fachkräften betreut werden? Und: beträgt der Unterschied auch 50 Prozent?
Und in Wohnheimen, gibt es dort unter Umständen einen Zusammenhang zwischen der „Ambulantisierungsrate“ und der Anzahl dort beschäftigter Fachkräfte ?
Aus fachlicher Sicht kann man der Bremer Bildungssenatorin dankbar sein, dass sie uns eine Diskussion aufzwängt, die wir freiwillig bisher zu führen nicht gewillt waren. Tatsächlich nämlich geht es, ausgelöst durch die Diskussionen im Zusammenhang mit der „Kita-strophe“, um die Sicherung der Zukunft sämtlicher professioneller Sozialen Arbeit in unserem Land.
Eine der Chancen besteht darin, neu zu überlegen, ob es so etwas wie „Soziale Basiskompetenzen“ geben könnte, die Kinder in der Schule als Unterrichtsfach zu lernen haben. Immerhin sind wir ja soziale Wesen und können ohne gegenseitige Zuwendung nicht existieren.
Da wären eine Sensibilisierung und eine kleine Auffrischung und Verstetigung von „Sozial“ nicht das schlechteste, was Kids aus der Schule mitbrächten. Das mit den Ellenbogen und dem Mobbing lernen sie auch so, dafür sorgt nicht zuletzt auch das auf Konsum ausgerichtete System, in dem sie heranwachsen.
Man stelle sich Schulabgänger und Schulabgängerinnen vor, die Sozial kompetent, achtsam und wertschätzend miteinander umgehen und die mehr auf dem Kasten haben, als die 112 zu wählen oder die Straßenseite zu wechseln. Soziale Kompetenzen sind Basiskompetenzen, ohne die Zusammenleben nicht möglich ist. Also gehören sie auch in die Fläche und nicht (nur) an die Fachschulen für Sozialwesen.
Je umfangreicher die Basiskompetenzen, desto geringer die Notwendigkeit zur Spezialisierung!
Der Kreislauf, dass fehlende Sozialkompetenz in der Folge irgendwann auch professionelle Soziale Dienstleistungen generiert, ist nicht gottgegeben, sondern eher dem System zuzuschreiben, das Helfen zur Ware gemacht hat und gewöhnlich erst dann in Aktion tritt, wenn die Finanzierung gesichert ist. Auch das ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Als vor wenigen Tagen die Meldung durch die Presse ging, dass in Wilstedt ein Heim, in dem demenzkranke Menschen leben, von der Schließung bedroht ist, weil in ihm zehn Pflegehelfer aus Kolumbien tätig sind, deren Asylanträge abgelehnt wurden, ist wieder sichtbar geworden, wie fragil das System ist.
Der komplette Bereich des Sozialen steht vor erheblichen Herausforderungen, die sich nicht lösen lassen, wenn man nicht auch insgesamt das Soziale neu denkt. Das darf man im Eifer des Gefechts nicht mit den netten Aussagen zum Sozialbereich in den Wahlprogrammen irgendwelcher Parteien verwechseln.
Das Denken von Fördermittelbescheid zu Fördermittelbescheid, von Kostenzusage zu Kostenzusage und von irgendwelchen Bewilligungen bis zu irgendwelchen Bewilligungen reicht einfach nicht. Weiter so geht nicht weiter so.
Nachdem Frau Aulepp für die Politik einen Impuls gesetzt hat, braucht es für die Debatte von der Seite der Betroffenen, der Anbieter, der Mitarbeiter:innen und der Wissenschaft auch entsprechende Impulse. Ansonsten werden wir Reform um Reform und wohl auch Wahl um Wahl erleben, bis das System so erstarrt ist, dass es sich nicht mehr gezielt umgestalten lässt.
Daran allerdings dürften nur diejenigen Interesse haben, die dann nach gewohnter Manier mit einfachen Antworten und klaren Ansagen Fakten schaffen, die weitaus schmerzhafter sein dürften, als das, was es uns kostet, die Diskussion um die Zukunft des Sozialen von uns aus zu führen.